Bedrohte Gesichter

Der sowjetische Autorenfilm und die Anthropologie des Tauwetter

Abstract

In den letzten Jahrzehnten sind zahlreiche Studien zu Gesten im sowjetischen Film entstanden. Obwohl dieses Forschungsfeld die Mimik nicht ausblendet, bleibt eine spezifische Erforschung des Gesichts und seiner Affekte, gerade im spätsowjetischen Film, deutlich seltener. Nach dem Stalinismus mit seinen skulpturalen, monumentalen Tendenzen markierten die späten 1950er Jahre eine Subjektivierung des sowjetischen Films, gerade in Michail Kalatozovs Letjat žuravli (Die Kraniche ziehen, 1957) anhand von Close-Ups des enigmatischen Gesichts der Protagonistin. Diese Subjektivierung spielte eine formative Rolle für den Film des Tauwetters. Sie entfaltete sich, so die These des Artikels, parallel mit dem Konzept der „allseitig entwickelten Persönlichkeit“ („vsestoronne razvitaja lichnost’“; von russ. „lico“, das sowohl „Gesicht“ wie auch „Person“ bedeutet) in der sozialistischen Anthropologie nach Stalin, wie sie die Kommunistische Partei formuliert hatte und die Sozialwissenschaften sie reproduzierten. Dieses Personalitätskonzept revidierte die Idee der Selbstopferung für das Kollektiv und schloss erstmals alltägliche (Konsum-)Bedürfnisse mit ein. So inszenierten Vertreter des Autorenfilms um 1960 wie Marlen Chuciev, Andrej Tarkovskij, Larisa Šepit’ko und Michail Romm einerseits emphatisch Gesichter mit mehr oder wenig klarer Bezugnahme auf die Anthropologie des Tauwetter. Andererseits verweist das Gesicht in diesen Filmen auf Traumata einer Nachkriegsgesellschaft und hat ein beträchtliches Verstörungsspotential, das bisher nicht näher untersucht worden ist. In medialer Hinsicht diskutiert der Artikel relativ harmonische Darstellungen des Gesichts, die zugleich eine unverkennbare Spannung zwischen dem Optimismus technischer Reproduzierbarkeit und der Bloßlegung von Verwundbarkeit ins Bild setzen.