Industrialisierung und auditive Kultur Osteuropas im Zeitalter des Hammerklaviers

Author
Dmitri Zakharine
Abstract
In eine Welt voller Klänge katapultiert und in dieser Welt seiend, haben wir kein Wissen über den Ursprung, die Lautstärke, die Frequenz oder die Herstellungsbedingungen der Klangobjekte, die uns im Alltag umgeben. Um an dieses Wissen zu gelangen, benötigen wir wissenschaftliche Erkenntnisse, zu denen, über die Geschichte der materiellen Kultur hinaus, auch Ergebnisse psychologischer Experimente und akustische Messungen gehören. Alle diese Daten sind Schlüssel zum Verständnis der auditiven Kultur, sprich all dessen, was der Mensch im Bereich der Töne selbstgestaltend hervorbringt. Gegenstand des vorliegenden Beitrags ist die vergleichende Analyse auditiver Kultur im Osten und Westen Europas im Zeitalter der Industrialisierung, in der Epoche also, in der die bahnbrechenden und bis heute nicht überwundenen Grundlagen dessen, was heute als „klassische Musik“ bezeichnet wird, gelegt wurden.
Keywords
Robert & Andrew Diederichs; Karl Wirth; Carl Schroeder; Friedrich Mühlbach; Jakob Becker; Arsenij Avraamov; Aleksandr Šorin; Deutsches Kaiserreich; Russland; Österreich; Sowjetunion; auditive Kultur; Frequenz; Amplitude; Industrialisierung; Flügel.

Auditive Kultur

Die Genese der auditiven Kultur im Westen

Die Genese der auditiven Kultur in Russland

Sound in der frühsowjetischen Kultur

Medium im Medium. Hammerklavier im Tonfilm

Vergleich mit Gitarre und Akkordeon. Fazit

Bio

Bibliographie

Filmographie

Suggested Citation

Auditive Kultur

Die zentrale Perspektive, in der hier die Instrumentalisierung von Soundmedien für Kommunikationszwecke problematisiert wird, ist mitten im Zusammenspiel von Perzeption, Reflexion und Mediation angesiedelt. Perzeption, Reflexion und Mediation sind drei Pole im Rezeptionsvorgang, zwischen denen sich Prozesse der Reizaufnahme, intermodaler Assoziation, Bedeutungszuschreibung und kollektiver Deutung von Hörereignissen vollziehen. Die Klangumgebung wird durch akustische Reize wahrgenommen, anhand von Hörereignissen interpretiert und über kollektiv geteilte Klangsymbole kommuniziert.

Sensorische Perzeption

Für die Erfassung der Grenzen akustischer Wahrnehmung werden von Medizinern und Sozialökologen Begriffe wie ‚Zumutbarkeit‘, ‚Erhebliche Belästigung‘ oder ‚Gesundheitsgefährdung‘ verwendet.1 Zwar eignen sich diese Begriffe als Grundlage für rechtliche Urteile im Kontext der Anwendung der sogenannten Immissionsgesetze, doch nutzen sie wenig in Hinblick auf die Erfassung sozialer und kultureller Aspekte der Hörwahrnehmung.2 Akustische Störungen und Sensationen sind nicht nur unter dem Aspekt eines etwaigen medizinischen Schadens, sondern auch unter dem der Aufmerksamkeitslenkung zu betrachten.3 Aufmerksamkeitslenkung ist aber nur teilweise von technischen Aspekten des akustischen Reizes abhängig; sie wird auch durch kulturell geprägte Hörkompetenzen bestimmt und stellt mithin das Produkt einer auditiven Kultur dar. Während bspw. die Deutschen mit Glockenläuten eine Kirche assoziieren, wird derselbe Klang von Japanern eher als unangenehmes Warnzeichen für Bahnübergänge oder als Feueralarm wahrgenommen.4

Folgende Fragestellungen, die nicht in den Bereich der traditionellen Musikwissenschaft gehören, sollen im Weiteren ausführlich behandelt werden: Wie laut waren Wagneropern in der Wahrnehmung des damaligen Publikums? Welche Zusammenhänge gibt es zwischen der Industrialisierung und der verfeinerten Mechanisierung des Instrumentenbaus? In welcher Beziehung zueinander stehen die Lautstärke von klassischen Konzerten und die der industriellen Welt? Schließlich, wie änderten sich die Wahrnehmungskontexte angesichts der Verbreitung der elektrischen Lautreproduktion?

Reflexion

Anschließend an den Aspekt der sensorischen Wahrnehmung sollen hier des Weiteren kollektive Deutungen von geteilten Hörerfahrungen untersucht werden. Es soll gezeigt werden, dass es sich bei diesen kollektiven Deutungen um diskursive Konstruktionen handelt. Diskursive Konstruktionen, die eine auditive Kultur begründen, umfassen Vorstellungen vom zeitlichen wie räumlichen Kontext der Schallimmission. Hinzu kommen Vorstellungen vom sozialen Status der Hörer sowie Vorstellungen vom sozialen Prestige bestimmter Lautquellen etc. Die Erfahrung im Umgang mit materiellen Klangobjekten unterscheidet sich von einer rein akustischen (oder ‚akusmatischen‘) Erfahrung. Klangobjekte werden in alltäglichen Hörsituationen nicht nur akustisch, sondern auch visuell und taktil wahrgenommen. Erweiterte Reflexionsmöglichkeiten über den sozialen Status von Lautquellen eröffnen audiovisuelle Medien insofern, als sie, parallel zur Vermittlung des Tons, die Darstellung der Klangobjekte ermöglichen.

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Anschauliches Schema der auditiven Kultur.

Mediation

Der Analyse akustischer Mediationsverfahren geht die Überlegung voraus, dass Sender, Vermittler und Empfänger von akustischen Botschaften über ihren unterschiedlichen sozialen Status hinaus auch über unterschiedliche Deutungskompetenzen im Bereich des Hörens verfügen. Nur wenige Menschen mit absolutem Gehör sind fähig, die Höhe eines Tons ohne Hilfsmittel zu bestimmen. Die durchschnittliche Identifizierungsfähigkeit des menschlichen Gehörs reicht nicht einmal aus, um Teilnehmer eines Blinde-Kuh-Spiels anhand ihres Händeklatschens zu identifizieren (Repp 1987: 1100). Deutungskompetenzen im Bereich der Musikklang- und Stimmklangdeutung stehen traditionell nicht jedermann, sondern hauptsächlich ausgewählten “Personenmedien”, sprich ausgebildeten Interpreten, wie Priestern, Musikern oder Soundregisseuren zu. So wurde das feine Gehör seit eh und je geschätzt und geschützt. Antike Priester, die die sprachlich und musikalisch ambivalenten Vorhersagen der Orakel deuten konnten, erschienen immer in der Nähe der Häuptlinge. Christliche Geistliche waren berufen, über den Gesang den Weg zum Herzen der Gläubigen zu finden. Dirigenten bürgerlicher Abstammung wurden an absolutistischen Höfen adelige Titel verliehen. Die Opernkomponisten des späten 19. Jahrhunderts standen den Herrschern der jeweiligen Nationalstaaten zur Seite. International vernetzte proletarische Radio-Avantgarden versuchten mithilfe elektrisch reproduzierten Sounds das akustische Konstrukt der Nationalstaatlichkeit, das in den großen Opern des späten 19. Jahrhunderts zum Ausdruck kam, zu sabotieren (Lovell 2011: 591-615). Zu Beginn der elektrischen Lautreproduktion bildeten Repräsentanten politischer Macht, Radioingenieure und avantgardistische Soundregisseure eine Figuration, sprich ein Beziehungsgeflecht sozialer Akteure, deren Abhängigkeit voneinander häufig Gegenstand soziologischer Untersuchungen war (Elias 1970: 142). Die Frage, welche “Personenmedien” zur Festlegung einer bestimmten auditiven Kultur den wichtigsten Beitrag leisten, ist bisher kaum vergleichend untersucht worden. Im Folgenden soll dieser Frage anhand einer komparativen Analyse der Genese von ost- und westeuropäischen Musikkulturen nachgegangen werden.

Die Genese der auditiven Kultur im Westen

Während des gesamten 19. Jahrhunderts lässt sich europaweit beobachten, wie sich die symphonische Musik zum einen von den Zwängen des konfessionellen Gebrauchs emanzipierte und zum anderen ihre Produktionspraxis dem Blick der Öffentlichkeit entzog und mit einer neuen Aura des Sakralen umhüllt wurde (Blaukopf 1984: 95). Sowohl in der öffentlichen Rezeption, als auch in der Selbstreflexion der Musiker wurde das Komponieren im 19. Jahrhundert zur intimen Praxis stilisiert: „Die Musik ist ein Weib. Die Natur des Weibes ist die Liebe, aber diese Liebe ist die empfangende und in der Empfängnis rückhaltlos sich hingebende“, schrieb Richard Wagner über das Geheimnis des Komponierens.5

Parallel entwickelte sich das Symphonieorchester weg vom Handwerkerunternehmen hin zu einer Fabrik, in der eine fabriktypische Arbeitsteilung üblich wurde. Bereits Mitte des 19. Jahrhunderts waren die Söhne derjenigen, die noch Anfang des Jahrhunderts als herstellende Kunsthandwerker und Instrumentenbauer praktiziert hatten, zu Großindustriellen im Klavierherstellungsbereich geworden. Zuerst in England (Broadwood), dann in Amerika (wo der Sohn des Orgelspielers und Klavierbauers aus dem Harz, Heinrich Engelhard Steinweg, die Klavierfabrik Steinway gründete) bemächtigte sich die maschinelle Großproduktion des Klavierbaus (Weber 1972: 76) Im Einklang mit einer komplexeren Arbeitsteilung im Bereich der Klavierproduktion, veränderte sich auch der Stil von Musikaufführungen. Während der Komponist sein Ensemble im 18. Jahrhundert zumeist selbst anleitete bzw. als Mitspielender mit Cembalo, Geige oder Clavichord vor dem Publikum auftrat, wurde er nun zunehmend als Ingenieur inszeniert.6 An der Seite des Ingenieurs erschien der Dirigent mit seinem Stab als leitender Manager, dem die Endmontage und die Demonstration des fertigen Musikprodukts oblagen.7

Vom Schlaghammer zum Hammerklavier

Das Problem der kommunikativen Erreichbarkeit größerer Hörergruppen wurde durch die Erhöhung der Netzwerkdichte im Rundfunkbereich, vor allem jedoch durch die Steigerung der Lautstärke von Musikaufführungen gelöst. Mit der “Industrialisierung” des Musikgewerbes nahm der summarische Schalldruckpegel von Musikveranstaltungen drastisch zu. Während ein Orchester des 18. Jahrhunderts in der Regel mit 20 Aufführenden auftrat, wurde die Stärke eines Orchesters des 19. Jahrhunderts auf durchschnittlich ungefähr 85 erhöht.8 Dieses Wachstum ermöglichte erst die Aufführung monumentaler Messen von Berlioz und der Opern von Wagner, die in puncto Schallintensität und Dauer kein Pendant in der bisherigen musikalischen Kunst kannten. Für seine Grande Messe des Morts (1837), die er im Auftrag des französischen Staates im Andenken der Opfer der Julirevolution (1830) schrieb, sah Hector Berlioz 180 Instrumente vor, hinzu kam ein Chor mit 80 Sopran- und Altstimmen, 60 Tenören und 70 Bässen – alles in allem mehr als 400 Musiker und Sänger (Buschkötter 1996: 119; Niecks 1884: 129).9

Geht man davon aus, dass der durchschnittliche Schallpegel in einem mittleren Konzertraum bei den Streichern nach heutigen Messungen um 90 dB, bei den Holzbläsern um 93 dB und bei den Blechbläsern um 102 dB liegt und dass der Schalldruckpegel eines mittelgroßen Symphonieorchesters im Forte 110 dB, im Fortissimo sogar 120 dB erreicht, so kann man sich vorstellen, dass die Lautstärke, mit der Berlioz das Publikum seiner Zeit sinnlich überwältigen wollte, an mehreren Stellen über der Schmerzgrenze lag und sogar den in heutigen Diskotheken erlaubten Schallpegel übertraf. In diesem Zusammenhang lässt sich anmerken, dass eine Hördauer von Konzerten klassischer Musik ab 16 Stunden pro Woche gemäß einer modernen Schätzung aus gesundheitlichen Gründen kritisch ist.10 Drei Wagneropern pro Woche können also einen ernsten Hörschaden verursachen (Holstein 2008: 43).

Nicht nur die Anzahl der Orchestermitglieder, sondern auch der Charakter der Musik und die Dauer der Musikveranstaltungen passte sich im 19. Jahrhundert den in den damaligen Fabriken herrschenden Arbeitsverhältnissen an. Wagners Götterdämmerung betrug mit sechs Stunden ununterbrochener Spielzeit die Hälfte bis zwei Drittel der üblichen vertraglichen Arbeitszeit in England und Deutschland. In der Opernkunst wurde der Akzent zunehmend auf den kraftvollen Klang von Blasinstrumenten gesetzt, deren Intensität die des Streichorchesters bei gleicher Entfernung um mehr als das Zweifache übertreffen kann.

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Erfahrungswerte für Schallpegel der instrumentellen Musik (Quelle: SUVA. Schweizerische Unfallversicherungsanstalt. Luzern 1999).

Auch die Produktionsverfahren der wichtigsten Instrumente des Symphonieorchesters wurden weiterentwickelt, was die summarische Lautstärke der Konzertaufführungen drastisch in die Höhe trieb. Bei den Streichern wurden Saiten aus Schafs- und Rinderdarm zunehmend durch Metallsaiten ersetzt. Verbesserte Ventil- und Klappensysteme sorgten bei den Bläsern für ein höheres Klangvolumen. Die entscheidenden Änderungen betrafen jedoch den Bereich der Tasteninstrumente, in dem das Hammerklavier, dessen Saiten angeschlagen wurden, das Zupfinstrument Cembalo nach und nach verdrängte (Batel 1987: 209-218). Im zweiten Drittel des 18. Jahrhunderts kanzelte Voltaire das laute Hammerklavier noch als Instrument eines Kupferschmieds („instrument de chaudronnier“) ab.11 Ein Jahrhundert später wäre ein solches Urteil selbst in einem ironischen Kontext kaum mehr angemessen gewesen.

Der Siegeszug, den die Hammerklavierkultur in der euroamerikanischen Welt seit den 1840er-Jahren feierte, beruhte auf zwei Aspekten: (1) der Erzeugung eines größeren Tonvolumens aufgrund der stärkeren Saitenspannung bzw. der Verwendung des Eisenrahmens und (2) der Erfindung der sogenannten Repetition mit doppelter Auslösung, die den Hammer beim Rückfall so abfing, dass sofort ein neuer Anschlag möglich wurde (Blaukopf 1984: 91).

Mit der Umstellung auf eine industrielle Klavierproduktion ging die Errichtung von firmeneigenen Konzertsälen und die Etablierung des Werbegeschäfts (mit der Vermarktung von großen Namen wie Liszt, Beethoven oder Rubinstein) einher. Der Werbefaktor „Beethoven“ war so enorm, dass die Kosten der Lieferung seines Broadwood-Flügels mit einem Pferdegespann von Triest über die Alpen bis nach Wien (eine Strecke von 470 Kilometern!) von der Herstellerfamilie Broadwood übernommen wurden.12 Derselbe Klavierhersteller Broadwood lieferte Frederic Chopin neben Musikinstrumenten auch Matratzen für sein Bett. Im Gegenzug durfte Broadwood die Preise für Unterrichtsstunden des Komponisten festlegen. Bei seinen öffentlichen Auftritten war Chopin vertraglich verpflichtet, auf Broadwood-Klavieren zu spielen.13 Für einen Auftritt im privaten Milieu der Londoner Salons von Grote, Broadwood, Chorley oder Carlyles verlangte Chopin 20 Guineas. Dies war nicht billig und entsprach einem durchschnittlichen Lohn für ca. 100 Tage Arbeit (Hedley 1961: 320). Jedoch kamen die Organisatoren der Musikabende ebenfalls auf ihre Kosten. Laut der Preisliste des Unternehmens John Broadwood and sons kosteten die günstigsten Broadwood-Klaviere Mitte des 19. Jahrhunderts circa 38 Guineas (das entsprach drei Monatslöhnen eines Arbeiters). Klaviere teurer Marken wie Mahogany, Elegant oder Rosewood kosteten bis zu 155 Guineas.14

Mit den neuen Regeln des Instrumentenbaus etablierte sich eine neue auditive Kultur, die, nach einer Bemerkung von Dieter Hildebrandt, alle modischen „Schwingungsexperimente eines Helmholtz“ zu nutzen wusste und bei der Entfaltung der eigenen Verkaufs- und Werbestrategien voll auf das Fortissimo setzte (Hildebrandt 1985: 288). Das Hammerklavier erfüllte die Funktion eines Scharniers, indem es die Hammer-Laute der Industrie ästhetisch aufarbeitete. Mithin wurde der Triumph der industriellen Klangproduktion unaufdringlich ins Bewusstsein der hörenden Öffentlichkeit gehoben. Die Aufführung schöner Musik in der Lautstärke ihrer industriellen Klangumwelt konnte nur durch die Fabrikproduktion von Musikinstrumenten gewährleistet werden. Ohne eine vorausgehende technische Modernisierung der Rahmen- und Saitenherstellung, ohne eine systematische Ausbildung von Klempnern, Tischlern und Lackierern, ohne den Aufbau von Distributionsnetzen, ohne die Werbekampagnen mit bekannten Komponisten und Instrumentalisten und die Ausdehnung des internationalen Klavierexportgeschäfts hätte die westliche auditive Kultur am Vorabend der Elektrifizierung wahrscheinlich eine ganz andere Gestalt angenommen. Die Fabrik und das Orchester unterlagen einem gemeinsamen Organisationsprinzip, das sowohl die Figurationsprinzipien des Industriewarendesigns als auch die des Sounddesigns prägte.

Vom Hammerklavier zum Filmorchester

Nach dem Aufkommen des Phonographen und des Radios dominierte das Hammerklavier noch sehr lange im Kontext der euroamerikanischen Filmkultur, was sich mit der Unvollkommenheit der damaligen Möglichkeiten der Tonbildsynchronisierung allein nicht erklären lässt. Obwohl die Vitaphone-Technik schon Anfang der 1920er-Jahre die Synchronisierung von bewegten Bildern mit einer laufenden Schallplatte ermöglicht hatte, wurden Klaviere bei Filmvorführungen weiterhin bevorzugt. Der entscheidende Grund dafür lag in der Stärke des Klaviermarktes.15 Während jeder große Präsentationsraum über einen Flügel verfügte, gab es für eine mechanische Tonbildsynchronisierung keine einheitlichen Lösungen. Anfang des 20. Jahrhunderts zielten fortschrittliche Technologien im Kinogeschäft daher weiterhin auf die Modernisierung des Flügels. Klavierautomaten in Form von fingerähnlichen Anschlagmechanismen wurden in die bereits vorhandenen Instrumente eingebaut (Roehl 2009: 9). Die Entwicklung der euroamerikanischen Filmkultur Anfang des 20. Jahrhunderts war durch eine Tendenz zur Vergrößerung der Kinoorchester geprägt. Bestand ein typisches Kinoorchester in den USA um 1912 in der Regel aus zwei Musikern (ein Klavier und eine Trommel), so konnte das renommierte Roxy Symphony Orchestra in New York im Jahr 1929 mit 110 Mitgliedern prahlen (Altman 2004: 290). Um 1920 gab es in den USA, nach einer Kalkulation von Max Winkler, etwa 3.500 Kinotheater, die jeweils zwischen sieben und zwölf Instrumenten boten. Für weitere 3.500 Kinohäuser waren Orchesterbesetzungen mit drei bis vier Musikern typisch. Insgesamt verfügte ungefähr die Hälfte der 15.000 amerikanischen Kinos, in denen motion pictures liefen, über ein eigenes Orchester (Winkler 1951: 3).

Der in den 1930er-Jahren aufgekommene Brauch, Lautsprecher während der Tonfilmaufführungen nicht neben oder hinter die Leinwand, sondern in der herkömmlichen Orchestergrube zu platzieren, zeigt, dass die euroamerikanische auditive Kultur auch nach dem Vordrängen von Lichttonaufnahmeverfahren am Primat des Hammerklaviers und des Symphonieorchesters orientiert blieb.16

Vom Filmorchester zum Sound

Der Geschmack der euroamerikanischen Hörgemeinschaft im industriellen Zeitalter lässt sich an der Kontinuität der auditiven Hammerklavierkultur beobachten. Nachdem die synchrone Tonspur das live spielende Orchester Ende der 1920er-Jahre allmählich aus den Kinogeschäft verdrängt hatte, änderte sich der Stil von Filmvorführungen, die einen Kassenerfolg beanspruchten, zunächst nur unwesentlich. Der mit symphonischer Musik erzogene euroamerikanische Zuschauer trennte sich ungern von den gewohnten akustischen Stereotypen. Die Dominanz des Hammerklaviers und des Symphonieorchesters verlangsamte das Einziehen von Natur- und Industriegeräuschen ins elektroakustische Sounddesign der frühen Tonfilme. Bei der Auswahl des akustischen Materials passten sich die Soundregisseure der vorherrschenden Vorstellung vom Film als Symbiose aus Musik und motion pictures an. Dementsprechend wurden das Varieté und die Music-Hall, mit einem Wort, die Orte, die schon vor der Einführung des Tonfilms als typische Habitate der auditiven Kultur galten, von Drehbuchautoren als filmische Handlungskulissen bevorzugt.

Am Anfang zählten in den USA, dem Pionierland des Soundfilms, hauptsächlich Filmmusicals zu den erfolgreicheren Kinoproduktionen. Amerikanische Frühwerke im Tonfilmbereich, wie The Jazz Singer (1927), The Hollywood Revue of 1929 (1929) oder die Broadway Melody (1929) hatten ihren Ursprung in gleichnamigen Broadwayinszenierungen. In Deutschland rechnete man Filme wie Der Blaue Engel (1929), Das Flötenkonzert von Sanssouci (1929), Das Land des Lächelns (1929), Die Drei von der Tankstelle (1930), oder Der Kongress tanzt (1931), in denen das Orchester als Hauptkulisse auftrat, zu den profitabelsten Kinoaufführungen der Rechnungsjahre 1929/1930. Frühe Tonfilme (wie Pabsts Westfront 1918), in denen die Geräuschuntermalung gezielt zur Steigerung des realistischen Eindrucks eingesetzt wurde, waren Ausnahmen.

Die westliche auditive Kultur des industriellen Zeitalters war in den Medien des Hammerklaviers und des Symphonieorchesters verankert. Sie war darauf bedacht, ihre Grenzen vor akustischen Eingriffen von außen zu schützen. Die Aufzeichnung des Hammerklaviers mithilfe von elektrischen Datenträgern und die spätere Verwendung solcher Datenträger in der Tonfilmindustrie spiegeln die Kontinuität der auditiven Kultur der industrialisierten Gesellschaft in West- und Mitteleuropa wider. Was im Westen durch Gewohnheit und Gemeinschaft wohlbegründet erschien, wurde in der Perspektive der osteuropäischen Außenbeobachtung als unerträglicher Widerspruch aufgefasst. Die Kritik der linken formalistischen Avantgarde in der Sowjetunion richtete sich dezidiert gegen die Umsetzung von Prinzipien der Opern- und Operettenkunst im Massenmedium Tonfilm.17

„Zu der Zeit“, schrieb der russische Formalist Andrievskij über die Anfänge des Tonfilms in Deutschland und Frankreich, „stellten Tonbilder nichts anderes als aufs Filmband aufgenommene Operetten und Opern, des Weiteren auch Revuen dar [...]. Das Konzept der ausländischen Produzenten, der Kapitalisten also, folgte einem sehr einfachen Schema: [...] 90 Prozent der Filmproduktion entsprach dort einem ‚Café-chantant‘-Modell. Es ist bemerkenswert, dass eine Bar, eine Kneipe, eine Music Hall dort nicht nur als Handlungsorte, sondern auch als Material für den Aufbau des Tonfilms benutzt wurden.“18

Man wies darauf hin, dass der sowjetische Tonfilm im Hinblick auf seinen Charakter und seine Aufgaben sich von den deutschen, französischen und amerikanischen Prototypen prinzipiell unterscheide. Während im Westen dem Musical eine vorrangige Bedeutung zukomme, spezialisiere sich die proletarische Tonfilmkunst der Sowjetunion auf die Abbildung der Geräuschkulisse des heroischen Industriealltags (Sokolov 1930: 59; Šorin 1941: 90; Andrievskij 1931: 21).19

Die Genese der auditiven Kultur in Russland

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Ein Flügel der Marke Becker, Mitte des 19. Jahrhunderts. Das Foto wird mit der Genehmigung des von Vladimir Vinogradov gestifteten russischen Museums “Familie der Flügel” / Muzej-usad’ba “Sem’ja rojalej” (Музей-усадьба "Семья роялей" Владимира Виноградова), veröffentlicht.

Die Frage, ob das Hammerklavier auch außerhalb Westeuropas ehemals symbolisch kodiert war, ob es so beispielsweise ein Teil der auditiven Kultur der osteuropäischen Mittelschichten sein konnte, ist bis heute offen. Auf den ersten Blick unterscheidet sich die auditive Kultur Russlands nur unwesentlich von ihren westeuropäischen Pendants. Als wichtige Argumente, mit denen der hohe Entwicklungsstand und das Prestige des Hammerklaviers in Russland begründet wird, gelten Musikhistorikern bis heute die Gründung des Petersburger (1862) und des Moskauer Konservatoriums (1866) durch die Gebrüder Rubinstein, die herausragenden kompositorischen Leistungen ihrer berühmten Absolventen, wie Pëtr Čajkovskij, Sergej Rachmaninov, Aleksandr Skrâbin und Sergej Prokof'ev, die Eröffnung deutscher Klavierfabriken wie Diederichs (1810), Schroeder (1818), Becker (1841), Mühlbach (1856) in Sankt Petersburg bzw. Seiler (1872) in Moskau und schließlich die Entstehung von regionalen Zentren der Klavierherstellung in Charkow, Kiew, Rostow-am-Don und Tiflis.

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Ein Exemplar eines Schröder-Flügels, Ende des 19. Jahrhunderts. Das Foto wird mit der Genehmigung des von Vladimir Vinogradov gestifteten Museums “Familie der Flügel” / Muzej-usad’ba “Sem’ja rojalej” veröffentlicht.
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Ein Mühlbach-Flügel, Ende des 19. Jahrhunderts. Das Foto wird mit der Genehmigung des von Vladimir Vinogradov gestifteten Museums “Familie der Flügel” / Muzej-usad’ba “Sem’ja rojalej” veröffentlicht.

Möchte man die Situation im russischen Musikmarkt genauer untersuchen, so stößt man jedoch auf quantitative und qualitative Unterschiede gegenüber den westlichen Pendants. Erreichte die jährliche Produktion der etwa 250 amerikanischen Klavierfabriken um 1900 171.000 Instrumente,20 so brachten die in Russland ansässigen Klavierhersteller im gleichen Zeitraum nur etwa 8.000 Klaviere auf den Markt. Ungefähr die gleiche Menge wurde aus dem Ausland importiert.21 Anders als in Deutschland und den USA besaßen die Klavierfabriken, die in Sankt Petersburg und Moskau ihren Sitz hatten, keine Distributionsnetze. Instrumente konnten nur direkt beim Hersteller gekauft werden, was die Ausbreitung der Laienklavierkultur wesentlich erschwerte.

Von Deutschen gegründet, blieben die größten in Russland ansässigen Klavierhersteller bis ins Jahr 1917 deutschsprachige Unternehmen. 75 Prozent der Facharbeiterstellen wurden dort von Deutschen, Tschechen, Letten und Esten besetzt. Den einheimischen Arbeitern slawischer Abstammung wurde angeblich nur gelegentlich das Lackieren der fertigen Produkte anvertraut.22 Gemäß den stereotypisierten Vorstellungen der St. Petersburger Eliten, war laut Stolpjanskij „der örtliche Klavierstimmer“ ein Synonym für „Alkoholiker“ (Столпянский 1923: 147). Die Umsetzung der neuesten Errungenschaften der Klaviermechanik vollzog sich verzögert. In der Peripherie kam die Einführung von modischen ausländischen Innovationen aus Kostengründen gar nicht infrage. So wurden in Charkow vor dem Ersten Weltkrieg billige Instrumente im Wert von 225 Rubel zusammengeschraubt, die für den professionellen Gebrauch nicht geeignet waren und eher als Zimmerschmuck dienten. Nur der größte Petersburger Klavierhersteller Becker konnte sich in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts eine eigene Produktion von Ersatzteilen leisten. Ansonsten importierten russische Fabrikanten Ersatzteile aus Deutschland und England nach Preissenkungen auf den dortigen Märkten.

Es ist bemerkenswert, dass der Haupteffekt des Hammerklaviers, das Assoziationen mit dem frühindustriellen Hämmern hervorrief, die russischen Zeitgenossen von Beethoven scheinbar weniger als das westeuropäische Publikum begeisterte. Der Augsburger Klavierbauer Karl-August Wirth, der in St.-Petersburg zwischen 1827 und 1854 wohl die größte Flügelproduktion auf russischem Boden leitete (innerhalb von 27 Jahren hat diese Fabrik ca. 2700 Instrumente hergestellt) experimentierte weniger mit den Klangeffekten von angeschlagenen Hämmerchen, als vielmehr mit Effekten der gezupften Saiten bzw. belederten Hämmerchen.

Zupfinstrumente wie Cembalo (engl. ‚harpsichord‘, russ. ‚klavesin‘, poln. ‚klawesyn‘) gehörten noch dem Barockzeitalter an. Sie verliehen dem Klang eine elitäre silbrig-glitzernde Färbung, die den Meistern des Hammerklaviers, wie Beethoven, altmodisch und überholt vorkam. Der Tonumfang des Cembalos ist kleiner als beim Hammerklavier. Für einen kleinen adeligen Salon war er jedoch ausreichend. Der von Wirth erfundene „Harfenflügel“ wurde mit Absicht nicht als Hammerklavier konzipiert. „Die Saiten waren mit Seide übersponnen“, bemerkt Lomtev (2014: 18) in Bezug auf den Harfenflügel, „und sie wurden nicht geschlagen, sondern gezupft.“

Ein Bericht (1833), in dem der Chefredakteur der regimetreuen Zeitung Severnaja pčela Faddej Bulgarin (1789–1859) ein ähnliches Instrument wie den Harfenflügel (von Wirths Kollegen Andreas Christian Schroeder hergestellt) mit viel Lob erwähnt, charakterisiert den Zustand der musikalischen Gemüter in den St.-Petersburger Salons, die vom bürgerlichen Musikgeschmack der Beethoven-Verehrer offenbar weit entfernt waren. Abgesehen von Harfenflügeln produzierte Wirth Hammerklaviere, bei denen die Hämmerchen „beledert“, sprich, mit Ledereinschnitten ausgestattet waren. Lederteile verliehen dem Ton eine leicht gedämpfte Färbung, die insbesondere beim Begleiten von Salonromanzen effektvoll zum Tragen kam. Das Ziel des Augsburger Klavierbauers bestand laut seinen Notizen darin, den Klang des Klaviers dem der siebensaitigen russischen Gitarre anzupassen (Lomtev 2014: 18).

Ausgehend von den überlieferten Memoiren kann man daraus schließen, dass das Klavier in privaten Räumlichkeiten in einer der Gitarre ähnlichen Funktion, sprich vor allem als stimmbegleitendes Instrument, auftrat. Ein zum Begleiten bestimmter Wirth-Flügel steht z.B. heute noch im Elternhaus des Komponisten Michail Glinka (1804–1857) in Novospasskoe bei Smolensk. Glinkas Jugendfreund Alexander Dargomyžskij (einer der bedeutendsten Repräsentanten der klassischen russischen Romanze) spielte, ähnlich wie Glinka, auf Wirth-Flügeln seiner Eltern, noch bevor er sich 1845 sein eigenes Instrument derselben Marke zum Singen und Komponieren besorgte. (Lomtev 2014: 113). Der Preis von Wirth-Klavieren lag um die Mitte des 19. Jahrhunderts bei 1700-1800 Rubel und entsprach dem zweijährigen Lohn eines Angestellten. Meistens konnten sich nur wohlhabende Gutsbesitzer mit guten Verbindungen nach St. Petersburg ein eigenes Instrument leisten.

Um die Mitte des 19. Jahrhunderts integrierten kleinadelige und bürgerliche Schichten (russ. raznočincy) das Salonklavier des Petersburger Hochadels in den eigenen Alltag und etablierten es somit als identitätsstiftendes Kultursymbol. Sowohl Pëtr Čajkovskij, als auch Wladimir Lenin machten ihre ersten Klavierübungen auf Wirth-Flügeln. In Lenins Haus wurde das Wirth-Klavier traditionsgemäß vor allem als Begleitinstrument benutzt. Laut den Memoiren von Lenins Schwestern begaben sich die Kinder zur Nachtruhe, sobald die Mutter Maria Aleksandrovna ihre Lieblingsromanzen, insbesondere jedoch Odnozvučno zvenit kolokol’čik (‚Eintönig klingt hell das Glöcklein‘ – Musik: Aleksandr Gurilëv, Verse: Ivan Makarov, 1853) in Begleitung des geschätzten Wirth-Klaviers vorzusingen begann (Ul’janova 1955: 13; Solov’ev 1969: 64; Veretennikov 1960: 29). Ähnlich legte Čajkovskijs Mutter Alexandra d’Assier ihrem Sohn die Liebe zur Musik quasi in die Wiege, indem sie abends russische Romanzen, vor allem Solovej (‚Nachtigall‘ – Musik: Alexander Aljab´ev, Verse: Anton Del’vig, 1825 in Begleitung ihres Wirth-Klaviers interpretierte (Weinstock 1948: 5).

Das Klavier als Konzertinstrument (im Gegensatz zur stimmbegleitenden Funktion), wird vom Schriftsteller Anton Čechov, einem feinsinnigen Beobachter des russischen Lebens, wie dem, mit Welt des Spießertums zugeordnet. In der Erzählung Ionyč (1898) steigert Čechov die komische Fallhöhe, indem er das schöne Aussehen einer jungen Dame gegen die unangenehmen Immissionen ihres Hammerklaviers ausspielt. Die hübsche Ekaterina Turkina schlägt mit voller Wucht auf die Tasten, als würde sie diese ins Holzgehäuse „hineinjagen wollen“. Sogar der in Ekaterina verliebte Arzt Starcev wünscht sich, als wohlgesinnter Zuhörer, nur das Eine, nämlich, dass die Lawine von „lästigen aber immerhin kulturellen Tönen“ baldmöglichst aufhöre.23 Čechovs Ironie konnte dem Leser des späten 19. Jahrhunderts nicht verborgen bleiben: am Hammerklavier erschlägt die junge Musikerin ihre Liebe und die ihres Verehrers. Am Ende ist das Interesse an der Kunst erloschen, die Berufung zur Mutterschaft verspielt.

Ähnliche Assoziationen rief das Hammerklavier einige Jahre früher bei einem weiteren Kenner russischer Sitten, Graf Lev Tolstoj, hervor. Das Motiv des Tastenanschlags wird in Die Kreutzersonate (1890) die gesamte Handlung hindurch mit dem des Mordanschlags parallelisiert. Der von einer krankhaften Eifersucht gequälte Hauptprotagonist erschlägt seine Frau mit einem Messer, wobei eine Szene, in der die musizierende Gattin Akkorde auf dem Hammerklavier „schlägt“, vor dem Angriff als Wahnidee in Erinnerung gerufen wird (Téren 1998: 115).

Als Konzertinstrument fand das Hammerklavier seinen Weg in den Alltag der russischen Mittelschichten Ende des 19. Jahrhunderts (im Vergleich zum Westen sehr spät also). Erst 1914 entwickelte die Petersburger Klavierfirma Mühlbach ein Modell eines konkurrenzfähigen Konzertflügels der Art Steinway mit einem stabilen Gussrahmen und Repetitionsmechaniken. Bis zum Ersten Weltkrieg wurden jedoch nur vier Flügel dieser Art fertiggestellt (Zimin 1968). Etwas flexibler war der Petersburger Fabrikant sächsischer Abstammung Johann Schröder, der die Entwicklung auf dem amerikanischen Klaviermarkt sorgfältig verfolgte. Allerdings erreichte das Produktionsvolumen seines Unternehmens am Vorabend des Ersten Weltkriegs (1913) nur knapp 1.200 Instrumente pro Jahr.

Die Beschaffung und geographische Verteilung der wichtigsten Klavierproduzenten weist eindeutig darauf hin, dass die Förderer und Nutznießer der binnenrussischen Klavierproduktion der von den Deutschen mitregierte Petersburger Hof und die dem Hof nahen Machteliten waren. Der für eine Bevölkerung von 165 Millionen Menschen (1913) vergleichsweise sehr geringe Bedarf von 15.500 Instrumenten pro Jahr wurde zur Hälfte nicht von den einheimischen und nicht von deutschsprachigen Petersburger und Moskauer Klavierherstellern, sondern durch den Export von zwei führenden in Deutschland bzw. Österreich ansässigen Firmen, Bechstein und Blüthner, gedeckt. Diese erschienen jedoch erst Mitte der 1880er-Jahre auf den russischen Markt und zogen sich aus diesem Markt am Vorabend des Ersten Weltkriegs wieder zurück. Während des Ersten Weltkriegs und der Oktoberrevolution verlor die russische Klavierproduktion bis zu 99 Prozent ihres Potenzials.

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Ein Flügel der Firma Carl Bechstein (1872), den der russische Pianist und Dirigent Nikolaj Rubinštejn für das Moskauer Konservatorium erworben hat. Das Foto wird mit der Genehmigung des russischen Museums Muzej-usad’ba “Sem’ja rojalej” veröffentlicht.

Bis zum Jahr 1917 blieben in Sankt-Petersburg 12 Fabriken, neun Werkstätten, 34 Klavierverleihe und 31 Klavierstimmer erhalten. Moskau musste um die gleiche Zeit mit vier Fabriken, 21 Klavierverleihen und 11 Klavierstimmern auskommen (Sergeev 2016: 89). Im Dezember 1917 schloss der Klavierhersteller Mühlbach, im April 1918 die Firma Diederichs ihre Türen. Die damals größte Fabrik von Becker wurde im Jahr 1918 von den Arbeitern beschlagnahmt, nationalisiert und arbeitete unter dem neuen Namen ‚Krasnyj Oktjabr’‘ (dt. ‚Roter Oktober‘) weiter. Erst 1924 konnte dieses Unternehmen wieder neue Bestellungen annehmen. Während des Ersten Weltkriegs produzierte Russland knapp 300 bis 350 Klaviere pro Jahr. Der größte Teil wurde aus Teilen hergestellt, die aus Frankreich importiert wurden. Die sowjetische Industrie reduzierte dieses Volumen 1922 noch einmal auf weniger als hundert Instrumente pro Jahr.

Dasselbe Figurationsprinzip, das die Organisation der russischen Klavierbaubranche prägte, bestimmte vor der Revolution 1917 den Stil von öffentlichen Opernveranstaltungen, die signifikante Unterschiede gegenüber ihren westlichen Pendants aufwiesen. Stellte der „Bildungshörer“, dessen Konsum sich laut Adorno am „Maßstab der öffentlichen Geltung des Konsumierten“ orientierte und „dem gehobenen Bürgertum“ angehörte, in der Konsumgruppe der deutschen Opernliebhaber den Regelfall dar, so waren russische Aufführungen von großen deutschen Opern des ausgehenden 19. Jahrhunderts viel stärker am „Unterhaltungshörer“ ausgerichtet.24 Die Werke von Wagner, die sich durch Aufführungsdauer, große Lautstärken (besonders der Bläser), einen Sitzzwang und das konzentrierte Zuhören im verdunkelten Zuschauerraum auszeichneten, wurden auf zweitrangen Petersburger und Moskauer Bühnen als bunte, in der Tradition des italienischen Belcanto stehende Konzertfragmente inszeniert. In solchen Inszenierungen wurde der Akzent, laut Bukina, weniger auf lange und lautstarke Orchester-Partien und mehr auf Arien als Phänomene der Stimmlichkeit gesetzt (Bukina 2009: 189).

Während das Kaiserliche Mariinskij-Theater der Wagnermode und insbesondere den Vorbildern des Bayreuther Opernhauses nacheifern konnte, legten die um 1898 entstandenen und von der Betreuungsanstalt für Volksnüchternheit (Popečitel’stvo o narodnoj trezvosti) finanzierten Massentheater ihren Hauptakzent auf pyrotechnische und bühnengestalterische Effekte. Sogar in stilstringenten Wagnerinszenierungen wurden Männerpartien immer wieder für weibliche Stimmen umgeschrieben. Die ungenauen Übersetzungen zerstörten oft die Harmonie des Stimmen- vs. Instrumentenklangs (Koržuchin 1913: 24; Zajl’ 1998: 142-146; Bukina 2009, 190).

Die Anzahl der auf dem Territorium des Russischen Zarenreichs vor der Revolution geführten Theater war im Vergleich zu Europa verschwindend klein. Laut Statistik des Kaiserlichen Jahrbuchs (1892–1915) beschränkte sich die Anzahl der russischen Theater für das Jahr 1898 auf 189 im europäischen Teil, 15 im Kaukasus, neun in Sibirien (ca. ein Theater pro 1 Million Einwohner also). Die landesweit weniger als 42 Konzertsäle hätten kaum einen bedeutenden Beitrag zur Schulung des bäuerlichen Ohres leisten können. Die hohen Preise für Theateraufführungen (eine Eintrittskarte für eine Loge kostete so viel wie zehn Eimer Wodka oder eine goldene Uhr – das entsprach dem Dreimonatsgehalt eines Facharbeiters in einer Großstadt wie Kiew) – machten den Opernbesuch selbst für wohlhabende Schichten zu einem kostspieligen Unternehmen und schlossen die Anwesenheit der unteren Schichten im Parterre und in den Logen praktisch aus.25

Bis 1900 liefen Stummfilme im russischen Verleih in der Regel ohne Klavierbegleitung. Erst nach 1908 setzte sich die Begleitung langsam durch, wobei Berichte belegen, dass die Zuschauer immer wieder das Geld für die Kinovorstellung zurückverlangten, wenn die Interpreten nicht erschienen. Erst um 1914, kurz vor dem Ersten Weltkrieg, etabliert sich im russischen Kinoverleih der Beruf des Filmklavierbegleiters, der allerdings nach 1917 de facto schon wieder von der öffentlichen Bühne verschwand (Civ’jan 1991: 92).

Zusammenfassend lässt sich feststellen, dass die öffentliche Symphonieorchester- und Hammerklavierkultur als Medium der gesamteuropäischen Industrialisierung den Völkern, die das russische Zarenreich zu Beginn des 20. Jahrhunderts besiedelten, nur begrenzt zur Verfügung stand. Die verspätete kollektive Erfahrung mit der industriellen Klangumwelt manifestierte sich in Russland anders als im Westen. Diese andersartige Erfahrung schlug sich in den Experimenten der sowjetischen Radioavantgarde, deren Entstehung in die Zeit der hastigen Industrialisierungskampagne der 1920er-Jahre fiel, nieder.

Sound in der frühsowjetischen Kultur

Mit dem Aufkommen des Radios und des Tonfilms emanzipierte sich die Musikkunst vom Versammlungszwang, unter dessen Druck Aufführende und Zuhörer zuvor gestanden hatten. Die Verschiebung der musikalischen Kommunikation von einem gebundenen akustischen Raum, mit festgelegten Merkmalen, hin zu einem variablen akustischen Raum, dessen Merkmale sich im Verlauf der Reproduktion verändern ließen, prägte von da an eine neue Art der Klangrezeption.

Gelegenheiten des Hörens, in denen man seine Identität als gläubiger Jude, als Kosake oder als russischer Landgutsbesitzer ins Spiel brachte, waren vor dem Aufkommen des Radios situativ und räumlich voneinander getrennt. Die fortschreitende Verbreitung des Radios (“Radiofizierung der UdSSR”) hatte eine Aufhebung der Grenzen zwischen identitätsrelevanten Hörperspektiven zur Konsequenz. Mit der Entstehung eines zusammenhängenden, allgemein zugänglichen Hörraums wurde die Frage, inwiefern der Genuss der Übertragung einer klassischen Oper durch die akustischen Kompetenzen des Proletariats gedeckt ist, zum Problem und Gegenstand einer institutionalisierten Polemik. Im Forum der sowjetischen Zeitschrift Radio Vsem (‚Radio für alle‘) warnten radikale Kritiker die Radioöffentlichkeit davor, dass die „gesamte spießige Ideologie und die hyperspießigen Emotionen verschiedener Traviatas, Fausts und Onegins“ vom „gefügigen“ und „dankbaren“ Mikrophon aufgenommen und „auf einer Wellenlänge von 1450 Metern“ ins unreife „künstlerische Bewusstsein des Massenzuhörers transportiert werden“ (Bljum 1927: 171).

Mit dem Argument, dass ein russischer Bauer nie ein Cello gesehen und „vom Fiedeln keine Ahnung habe“, schlug der Redaktionsvorstand vor, in den Radiosendungen neben den Volksinstrumenten wie Balalaika, Mandoline oder Horn, „das einfachste Instrument, vor dem sich Europa grauen würde – das Pfeifen mit künstlerischer Begleitung“ zum Tragen kommen zu lassen (Kovalev 1928: 360).

Das Problem der Bildung einer am Medium der Radiomusik orientierten „akustischen Gemeinschaft“, spiegelt sich im Inhalt der sowjetischen Radioprogramme wieder. Im Hinblick auf den Anteil der übertragenen Musik unterscheiden sich die frühen sowjetischen Sender von ihren westlichen Pendants. So machte Musik im BBC-Rundfunk um 1925 einen Anteil von circa 66% aller Sendungen aus, während Musik im sowjetischen Rundfunk im gleichen Jahr einen Anteil von nur ca. 20% hatte (50% machten politische Sendungen und 30% Berichte mit wissenschaftlichem Inhalt aus).26

Im Zusammenhang mit der zweitrangigen Stellung der klassischen Musik in Radioprogrammen der postrevolutionären Zeit kam es zu einer Revision der akustischen Qualitäten der Musikinstrumente, die den Geist der vorrevolutionären Hörkultur geprägt hatten. Als König aller Musikinstrumente rückte das Hammerklavier in den Mittelpunkt der Kritik. Die technischen und ideologischen Aspekte der wohltemperierten Stimmung wurden zur Wasserscheide, welche die Anhänger der traditionellen akustischen Kultur und die radikalen Befürworter des Systemwechsels gegeneinander aufbrachte. Das Wissen über rechnerische Inkonsistenzen, die sich aus der wohltemperierten Stimmung des 17. Jahrhunderts ergaben, war dabei zu Beginn des 20. Jahrhunderts nicht gänzlich neu.

Pauschal ließen sich diese Inkonsistenzen wie folgt erklären: Man hatte ja längst gemerkt, dass das System des wohltemperierten Klaviers dem Geist der genauen Zeitmessung nicht vorbehaltlos entsprach. Teilt man das hörbare Frequenzspektrum in die kleinsten wahrnehmbaren Tonhöhe-Intervalle auf, so lässt sich keine ausreichend lange spielgeeignete Saite finden, auf der man solche Intervalle unterbringen kann. Legt man die Länge der Saite fest, so muss man damit rechnen, dass Frequenzintervalle nicht überall gleich bleiben.

Seit der Antike wurden Saiten von Musikinstrumenten zuerst empirisch in Abschnitte aufgeteilt, danach wurden Äquivalente zwischen Saitenabschnitten und Frequenzmaßen gesucht und anhand von Zahlenproportionen Intervalle errechnet: Oktave – 1:2, Quinte – 2:3, Quarte – 3:4. Die von Pythagoras vorgeschlagene achttönige Skala setzte einen Wechsel von Ganz- und Halbtonschritten im Rahmen einer Oktave voraus. Eine solche Skala war so beschaffen, dass nur besonders wohlklingende (konsonante) Intervalle wie Oktaven und Quinten während des musikalischen Vortrags zum Tragen kamen. Dieses System war zwar einfach und benutzerfreundlich, zeigte jedoch die oben skizzierten Schwächen, da Proportionen von Saitenlängen und Proportionen von Frequenzintervallen darin nicht hundertprozentig aufeinander abgestimmt werden konnten. Versuchte man z.B. ausgehend vom Ton C nach 7 Oktaven und 12 Quinten die Frequenz für HIS zu errechnen, so ergab sich eine bemerkbare Frequenzdifferenz von einem Achtelton, die als Pythagoreisches Komma in die Geschichte der Musiktheorie eingegangen ist. Schichtete man nach Pythagoras die rein gestimmten Quinten übereinander, so erhielt man am Ende keinen in sich schließenden Quintenzirkel, sondern eine Sequenz, die sich in einen Oktavenrahmen nicht vollständig passte. Auf einem Tasteninstrument war eine solche Spirale schwer realisierbar, da es Stellen gab, an denen aufgrund des Harmoniegesetzes gleich zwei Tasten mit verschiedenen Frequenzen hätten eingebaut werden müssen (Enders 1999).

Schon im 18. Jahrhundert fand Andreas Werckmeister (1645-1706) eine Lösung des Problems, indem er alle Quinten geringfügig vergrößerte und Differenzen gleichmäßig verteilte, sodass ‚ungefähr‘ alle Tonarten spielbar wurden. Als begeisterter Nachfolger komponierte Johann Sebastian Bach für Werckmeisters „wohltemperierte Stimmung“ das Wohltemperierte Klavier. Später modernisierte man die wohltemperierte Stimmung dahingehend, dass man die Oktave in zwölf gleich große Halbtonschritte aufteilte und jedem Halbtonschritt ein logarithmisches Verhältnis zum entsprechenden Frequenzmaß zuwies. 27 Bei der wohltemperierten Stimmung werden also alle Intervalle außer der Oktave geringfügig gegenüber den exakten Zahlenproportionen geändert, was viele Kritiker auf den Plan rief. Die Gegner der Reform bemängelten diese Proportionsverschiebungen als nicht hinnehmbare Verzerrungen des Wohlklangs.

Während das sowjetische Radio für einen Anstieg der Anzahl von gleichzeitig Hörenden sowie für zunehmende soziale Spannungen sorgte, startete die sowjetische Musikavantgarde eine Kritik am „bürgerlichen“ Geist der temperierten Stimmung. „Die Krise des musikalischen Schaffens, die wir erleben, droht Jahrzehnte zu dauern, für den Fall, dass die alte musikalische Formation – nämlich das wohltemperierte Klavier – nicht gestürzt wird“, schrieb Arsenij Avraamov, einer der bedeutendsten Vertreter der russischen Musikavantgarde, an die Adepten der Hammerklavierkultur.28

Um 1920 war es Avraamov, der Lenins Bildungsminister Anatolij Lunačarskij ein Projekt vorlegte, das auf die Vernichtung aller im Land befindlichen Klaviere abzielte. Der Leiter der Drehbuchabteilung des Verbandes Proletkino Anatolij Mariengof gibt in Form einer Anekdote den negativen Bescheid des Ministers wieder:

Ich muss gestehen, ich bin mir da nicht ganz sicher, dass Genosse Lenin ihr geniales Projekt fördern wird. Sehen Sie, Vladimir Il’ič  mag Geige und Klavier. (Mariengof 1998: 9)

Das grundlegende Prinzip des sogenannten Universalen Tonsystems (UTS), das Avraamov im Kontext der Polemik mit der temperierten Stimmung errechnet hatte, bestand in der Verlängerung der Tasten- oder Saitensequenz und einer anderen Teilung der Intervalle, aus denen sich ein „arithmetisch genaues Verhältnis der Frequenzen“ ergeben sollte.29 Faktisch gilt Avraamov als Erfinder der Stimmung, die erst in der Nachkriegszeit dank der Möglichkeit einer dezimalen computergestützten Notenwiedergabe in die Praxis umgesetzt werden konnte.

Das entscheidende Argument für die Abschaffung der wohltemperierten Stimmung bzw. deren Substitution durch das Universale Tonsystem betraf die Qualität der elektroakustischen Lautreproduktion. Die unauffälligen Abweichungen von exakten Zahlenproportionen, die Andreas Werckmeister im Zusammenhang mit der Temperierung im Hinblick auf mechanische Musikinstrumente konzipiert und akzeptiert hat, mussten nach Avraamovs Rechnung bei einer elektroakustischen Verstärkung brisanter sein und schneller auffallen. Die elektroakustische Lautreproduktion wurde mithin von der sowjetischen Musikavantgarde zum natürlichen Feind des wohltemperierten Klaviers erklärt.30

Diese Prognose bestätigte sich, als das Team, das unter der Leitung des Ingenieurs Alexandr Šorin die ersten Lichttonaufnahmen von musikalischen Aufführungen unternahm, zu dem Schluss kam, dass Instrumente ohne wohltemperierte Stimmung in der Reproduktion besser als der Flügel klingen würden. „Alle Volksinstrumente – die Gitarre, die Mandoline und die Domra – hatten einen sehr guten Klang bei der [elektroakustischen] Reproduktion, und zwar sowohl bei der Soloaufführung, als auch innerhalb des Orchesters. Der Flügel klang immer unnatürlich“, schrieb der Erfinder der sowjetischen Tonfilmkamera Aleksander Šorin. Auf Instrumenten mit natürlicher Stimmung waren nicht so viele Tonarten wie auf dem Klavier spielbar. Dafür enthielten die spielbaren Tonarten nur Frequenzintervalle, die einer exakten arithmetischen Zahlenproportion entsprachen (Vgl. Šorin 1941: 66, 69).

Das technische Argument der Ingenieure implizierte die Unvereinbarkeit des Flügels mit neuen elektrizitätsbasierten Medien. Dieses Argument stärkte die ideologische Stellung der linken musikalischen Avantgarde, die die Kritik am wohltemperierten Klavier mit der ästhetischen Ablehnung des bürgerlich-adeligen Musikgeschmacks zu verbinden suchte. Und umgekehrt bildeten die Schriften der linken Musikavantgarde, die mit den Erfindern der Tonfilmkamera zusammenarbeitete, den handlungsleitenden Deutungsfilter, durch den das potenziell relevante Ingenieurwissen lief. Die Polemik zur temperierten Stimmung bot den Toningenieuren ein wichtiges Auswahlkriterium dafür, welche Wissenssegmente überhaupt zu berücksichtigen waren. Dies bestätigen die Sentenzen des Soundregisseurs Abram Room, der den ersten sowjetischen Tonfilm Fünfjahresplan mithilfe von Šorins Tonbildaufnahmegerät Schorinophon (russ. Šorinofon) aufnahm: „Besondere Aufmerksamkeit“, schrieb er, „brachten wir der natürlichen, der sogenannten de-temperierten Stimmung entgegen. Diese Stimmung wird (wie wir feststellen konnten) viel besser als die temperierte Stimmung aufgenommen.“ (Room 1930: 17).

Als Symbol der Frühindustrialisierung ist der Flügel für die „akustischen Gemeinschaften“ der russischen Unterschichten seit jeher ohne Relevanz gewesen. Nun ging aus den naturwissenschaftlichen Experimenten hervor, dass der Wohlklang der Klavierhämmer, die dem Weltkapitalismus im Zeitalter der Dampfmaschinen zum Verführen der Volksmassen verhalfen, kein Träger des Weltfortschritts war. Die akustisch fundierte Gegenüberstellung des Hammerklaviers und der elektrisch übertragenen Musik etablierte sich mithin als richtungsweisendes projektives Gebilde, das die wissenschaftliche Intuition und das kollektive Bewusstsein darüber bündelte, was im Bereich des kollektiven Gehörs machbar und wünschenswert war. Ein solches szientistisches Leitbild legte überraschenderweise eine Querverbindung zwischen altertümlichen Klangvorstellungen und Neuen Medien nahe. Es orientierte die Letzteren am Klang von vorindustriellen Musikinstrumenten mit natürlicher Stimmung bzw. ganzzahligen Frequenzverhältnissen in der Grundtonart. Dies war genau die Orientierung, die seit jeher zu den musikalischen Vorstellungen der bäuerlichen Schichten gehörte. In einer Phase, in der das Radio und der Tonfilm noch nicht zum Massenprodukt geworden waren, legten solche Leitbilder ideologische Korridore fest, die im Hinblick auf die weiteren Entwicklungen der Audiotechnik als unsichtbare Selektionsfaktoren wirkten (Dierkes, Hähner 1999: 105).

Nach einer Phase des Experimentierens im politischen, sozialen und auditiven Bereich, erlebte die sowjetische auditive Kultur in den späten 1930er Jahren eine erneute Orientierung an den westlichen Werten. Jedoch zeigen die oben beschriebenen Wandlungsprozesse, dass die Genese einer auditiven Kultur mit der Soziogenese einherging. Diese Verschränkung des Auditiven und des Sozialen kommt in Krisensituationen noch heute gesellschaftsübergreifend und medienübergreifend zum Vorschein.

Medium im Medium. Hammerklavier im Tonfilm

Die Oktoberrevolution (1917) entblößte die Ohnmacht der post-imperialen russischen Wirtschaft, die in der vorübergehenden Zerstörung der Hammerklavierkultur ihren Ausdruck, jedoch nicht ihr Ende fand. Das Interesse der sowjetischen Filmavantgarde an der Qualität des „authentischen Klanges“, sprich: an Geräuschen der Industrie und Lauten der Stadt (es sei erinnert an die Tonexperimente von Dziga Vertov ab dem Jahr 1929), ist vor dem Hintergrund der dargestellten Entwicklung nicht als rein künstlerisches Projekt zu interpretieren (Вертов 1931). Vielmehr ging es darum, den Medienproduzenten einen russischen Sonderweg in Form des Verzichts auf das Hammerklavier (als Attribut der westlichen Zivilisation) anheimzustellen.

Wie kein anderes Instrument reflektierte das Hammerklavier die Zerrissenheit der sowjetischen Hörgemeinschaft. Im vorrevolutionären Russland vorrangig von adeligen Eliten gespielt und von der revolutionären Musikavantgarde als technischer Versager angeprangert, hat das Hammerklavier seine Bedeutung als Klangsymbol der raschen sowjetischen Industrialisierung in den 1930er Jahren dennoch zurückerlangen können. Nach dem Aufkommen des Tonfilms als Massenkunst während der Stalin-Zeit verschärfte sich das Dilemma der Alt- vs. Neubewertung des Hammerklaviers im Zusammenhang mit der Konstitution einer von nun an primär medial konzipierten Hörgemeinschaft. In der Assoziation des Instruments mit den Spitzenleistungen adeliger Konzertkultur lag einerseits eine fortlaufende Dämonisierung, andererseits eine neue Heroisierung von Klavierspieltechniken in der Schwellenperiode 1930–1940 begründet.

Die Mitglieder der sowjetischen Parteigremien präsentierten sich nach dem XVII. Parteitag (1934) zunehmend als Mäzene. Alte Residenzen des Adels verwandelten sich um diese Zeit in Erholungsheime für die sowjetische Nomenklatura und im Jahr 1933 kehrte der Pianist und Komponist Sergej Prokof’ev in die UdSSR zurück.31 Laut den Memoiren des Komponisten Tichon Chrennikov besuchte Stalin regelmäßig Konzerte und Operninszenierungen im Bol’šoj-Theater und nahm andere Mitglieder des Politbüros gern mit (Хренников 2006: 1-2). In diesem Zusammenhang verlor das Hammerklavier nach und nach seine Symbolik des Bösen und mutierte zu einem Objekt des Staunens. Der Wiederaufbau einer fabrikmäßigen Klavierherstellung wurde nach 1932 zum prioritären Ziel des Wissenschaftlichen Instituts für Musikindustrie (Leningrad). Neben der Modernisierung der Klaviermanufaktur Krasnyj Oktjabr’ (der ehemaligen Diederichs-Fabrik) wurde der Bau eines Kombinats in Kušelevka mit einer Gesamtproduktion von 10.000 Klavieren pro Jahr ins Visier genommen. In Borisov (Sowjetische Republik Weißrußland) entstand eine weitere Fabrik für die Herstellung von Ersatzteilen.32

Ähnlich wie die ethnischen Hörkulturen des Zarenreiches waren die musikalischen Geschmackspräferenzen in Stalins Umgebung von Grund auf verschieden. Der Volkskommissar für Verteidigung Marschall Kliment Vorošilov sang populäre Jazz-Schlager und nahm Foxtrott-Unterricht. Auch Stalins Stellvertreter und Chef der Moskauer Parteiorganisation Lazar’ Kaganovič schwärmte für den amerikanischen Smooth Jazz. Der Vorsitzende des Präsidiums des Obersten Sowjets Michail Kalinin wiederum besuchte klassische Ballettvorstellungen im Bol’šoj-Theater. Und der Vorsitzende der sowjetischen Staatsplanung Valerian Kujbyšev dichtete revolutionäre Marschlieder. Der Chef der sowjetischen Geheimpolizei Nikolaj Ežov sang gern Volkslieder33, der Regierungschef Molotov spielte Violine.34 Als Abkömmling einer adeligen Familie beherrschte der Begründer der Roten Armee Michail Tuchačevskij sowohl Geige als auch Klavier.35 Ganz im Gegensatz dazu bevorzugte der Volkskommissar für Binnen- und Außenhandel Anastas Mikojan georgischen und armenischen Gesang. Wenn Stalin auf der Datscha seinen Schallplattenspieler anschaltete und alle zum Tanz aufforderte, war es in der Regel Mikojan, der den Gästen eine kaukasische Lezginka vortanzte (Medvedev 1990: 37). Die Festlegung eines einheitlichen Standards im Bereich der auditiven Kultur fiel schon aufgrund der heterogenen Präferenzen der Elite schwer.

Vor allem das neue Massenmedium ‚Tonfilm‘ setzte das alte Klangmedium Klavier in einen neuen semantischen Rahmen. Das Filmtheater im Kreml übernahm nicht nur die Rolle eines ideologischen Zensors, sondern auch die Funktion eines Trendsetters, in dem es das neue Soundformat für Tonfilme festlegte. Angesichts der niedrigen Produktionsquote konnte in den 1930er-Jahren faktisch die ganze sowjetische Tonfilmproduktion vom Politbüro kontrolliert werden.36

Die mediale Leistung des Tonfilms beschränkte sich lange nicht auf die Reproduktion von Klaviertönen im Soundtrack. Der Hauptbeitrag des Tonfilms zur auditiven Kultur bestand in der Herstellung von Klanghierarchien mithilfe der Visualisierung und sozialen Stereotypisierung von Lautquellen. Mithilfe der filmischen Montageverfahren wurde es nun möglich, Bilder des jeweiligen Musikinstruments und dessen Klang, des Weiteren auch Bilder von Interpreten, und Zuhörern in ein potenzierendes (einander verstärkendes) semantisches Verhältnis zueinander zu stellen. In den Einstellungen des Tonfilms konnte jedem Musikinstrument durch die Montage von Bild und Klang eine neue soziale Semantik zugewiesen werden. Diese Semantik war entscheidend für die Konsolidierung einer sowjetischen Hörgemeinschaft.

Im diegetischen Raum des frühen Tonfilms erscheint das Hammerklavier zuerst als Attribut des alten Feinds, sprich des vorrevolutionären Adels, danach jedoch zunehmend als Attribut der sowjetischen Elite. Einer der frühsten sowjetischen Tonfilme Čapaev (1934) von Braťja Vasil’evy (1934) behandelt das Klavier noch als Medium des sozialen Konflikts im Zarenreich. In einer Einstellung spielt der Oberst der Weißen Armee Borozdin (Illarion Pevcov) Beethovens Mondscheinsonate, deren beruhigende Töne einen Kontrast zu beunruhigenden Klängen des Bürgerkriegs darstellen. Während die Kamera heranfährt und den Fokus vom rasierten Nacken des Obersts auf das hasserfüllte Gesicht seines Dieners richtet, hört der Zuschauer einen Laut, der an einen Pistolenschuss erinnert. Das Klavierspiel wird unterbrochen. War es ein Mordschuss, mit dem der Diener seinen Klassenfeind hingerichtet hat? In der darauf folgenden Szene sieht man den umgefallenen bäuerlichen Besen, der aus den Händen des Dieners gefallen ist. Das Bild des unerbittlichen Klassenkampfs wird durch die Besen-Klavier-Montage entschärft und auf die Alltagsachse übertragen.

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Der Flügel als Klassenfeind. Im Vordergrund ein Oberst der Zarenarmee. Als Geräuschquelle zeigt die Kamera die Reibbürste, die aus den Händen des Knechts geglitten ist. Kader aus dem Film Čapaev (1934).

Während die Konflikte innerhalb des Parteiapparats zunehmend an die Stelle der Klassenkonflikte rückten, wuchs der Bedarf an symbolischen Platzhaltern, die den Hierarchisierungsprozess innerhalb des Machtapparats abbildeten. Durch die Aneignung der adeligen Kulturtechniken konnte sich ein Teil der Nomenklatura nach unten abgrenzen und auf diese Weise „geadelt“ werden. Der Tonfilm definierte neue Rollen für sowjetische Klavierinterpreten, wobei die Tendenz zur Darstellung der Ähnlichkeit zwischen adeligen und sowjetischen Eliten im Tonfilm der 1930er Jahre ständig zunahm.

Ganz im Stil des Vaudevilles des Zarenreichs, verdrehte der junge Mann in Ivan Pyr’evs Film Parteibuch (1936) der in ihn verliebten Kommunistin beinahe den Kopf, indem er ihr eine klavierbegleitete Romanze über die Liebe, die „selbst im Feuer nicht verbrennt“, vorsang (Pyr’ev 1936). Ein kleiner Fehler in der musikalischen Interpretation ließ jedoch die junge Dame, so die Montage des Soundtracks, an der Ehrlichkeit des Verehrers zweifeln (Drubek-Meyer 2001: 165-200). Ähnlich, wie das Geräusch des Besens, entblößte der Spielfehler des Interpreten nicht nur den ambivalenten Stellenwert des Klaviers im sowjetischen Wertesystem, sondern auch den Versuch diverser Elitegruppen die sowjetische auditive Kultur neu zu definieren. Während der Klavierinterpret ein Einsteiger ist, der sich unter Stalin vom Kulaken-Sohn in die Chefetage der sowjetischen Nomenklatura hochgearbeitet hat, ist die zuhörende junge Frau die Tochter eines alten Bolschewiken aus der Elite der Leninzeit. In der Maksim-Trilogie von Grigorij Kozincev und Leonid Trauberg wird die Verwandlung des Klassenkonflikts in den Apparat-Konflikt noch plausibler, als bei Pyr’ev dargestellt. In einer zentralen Szene bringt der Knall einer von den Bolschewiken aufgebrochenen Tür das verstimmte Hammerklavier der betrunken singenden, adeligen Verschwörer zum Schweigen (Kozincev/Trauberg 1935, 1937, 1938).

Parallel zur zunehmenden Entschärfung des Klassenkonflikts und der Zunahme der Spannung innerhalb des Machtapparats hielt das Hammerklavier Einzug ins Wertesystem der sowjetischen Hörgemeinschaft. Von nun an waren es zunehmend Symbolfiguren der sowjetischen Industrialisierung, die in den berühmtesten und erfolgreichsten Tonfilmen der Zeit die Kunst des Hammerklaviers als Kunst der Elite der Arbeiterklasse vor Ohr und Auge führten. Das antike Ideal einer körperlich und geistig vollkommenen Persönlichkeit (gr.: kalos kai agathos) fand in den Bildern der musizierenden Sportler und Flieger seine direkte Umsetzung. Hochgewachsene, hünenhafte Männertypen und blonde kräftige Frauen traten auf der Leinwand fortan als prominente Klavierinterpreten auf.

Nimmt man die im Staatlichen Archiv für Kino- und Fotodokumente (Moskau) aufbewahrten Aufnahmen aus den sowjetischen Dokumentarchroniken der 1930er Jahre in Betracht, so merkt man, dass Vertreter bestimmter Berufe ihre Interviews am häufigsten für das sowjetische Radio und den Dokumentartonfilm aufnahmen. Während Anwälte, Banker, kleine Angestellte und Bauern im sowjetischen Medienraum mit ihren Stimmen kaum präsent sind, kommen die ersten sowjetischen Flieger männlichen und weiblichen Geschlechts,37 prominente Sportler (insbesondere Leichtathleten, Fußballspieler, Schachspieler)38 und Helden der Industriearbeit39 neben den großen Naturwissenschaftlern und Erfindern,40 bekannten Historikern41, Schriftstellern42 und Schauspielern43 mit auffallender Häufigkeit zu Wort. Der Spielfilm reproduzierte dieselbe enge Palette von gefragten Schwerpunktberufen, wobei er die begehrten Schlüsselkompetenzen ästhetisierte und zu poetischen Clustern der Art ‚Athlet-Flieger-Klavierinterpret‘ zusammenführte.

Der Diskuswerfer Griša Fokin (Dmitrij Dorliak) in Abram Rooms Film Der strenge Jüngling schlägt mit seinen kräftigen Händen auf die Tasten des Flügels, der in der Mitte eines antiken Treppentempels steht (Роом 1934). Mit ähnlicher Präzision, wie bei Room, fing die Kamera die langen weit gespreizten Finger des Zirkusakrobaten Martynov (Sergej Stoljarov), wie sie mühelos die ersten Akkorde der inoffiziellen sowjetischen Hymne (sprich des Lieds Weit und breit ist mein Land – russ. orig. ”Široka strana moja rodnaja” – von Isaak Dunaevskij) in Grigorij Aleksandrovs Film Zirkus (1936) nahmen.

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Der Flügel als Spiegelfläche und erotischer Resonanzkörper in Grigorij Aleksandrovs Cirk / Zirkus (1936).

Nach dem Singen begab sich der Akrobat, entsprechend dem Drehbuch, als Flieger auf seine atemberaubende Nummer Der Flug in die Stratosphäre aus dem Bereich des Extremsports. Als prominenter Klavierinterpret wird der athletisch gebaute Jagdflieger Kožucharov (Mark Bernes) auf dem Abschlussfest der Fliegerschule in Eduard Penclins Film Jagdflieger (Penclin 1939) dargestellt. Das romantische Dreieck ‚Er – Sie – Klavier‘, welches ans Vaudeville der Zarenzeit erinnerte, kommt in der Szene, in der Kožucharov seiner Geliebten ein lyrisches Lied über den Abschied von der geliebten Stadt in Begleitung des Klaviers vorsingt, effektvoll zum Tragen.

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Am edlen Flügel: der athletisch gebaute Jagdflieger Kožucharov (Mark Bernes) verkörpert in Penclins Film Istrebiteli / Jagdflieger (1939) das Ideal des vollkommenen Menschen der Stalinzeit.

Vergleich mit Gitarre und Akkordeon. Fazit

Aufgrund der Evaluierung von Korpus-Beispielen aus den frühen sowjetischen Spielfilmen lässt sich schlussfolgern, dass längst nicht alle Musikinstrumente im Kontext der neuen Medien eine indoktrinierende Funktion hatten. Die meisten Instrumente des Symphonieorchesters, wie Geigen, Celli, Kontrabässe und Harfen tauchten in der Regel im Off, also außerhalb des diegetischen Raums des Tonfilms auf. Aus einer reichen Auswahl an Bläsern, Streichern, Bund- und Tasteninstrumenten gaben vor allem die Ziehharmonika, die Gitarre und der Flügel Aufschluss über den Charakter der auditiven Kultur in der Sowjetunion. Diese Musikinstrumente wurden im frühen Tonfilm am häufigsten ins Bild gesetzt.

Filmische Mise-en-scene-Verfahren, mit denen die Auswahl des Materials für die Dreharbeit bestimmt wurde, ermöglichten das Einfließen von neuen sozialen Semantiken in das Projekt einer identitätsbildenden sowjetischen Musikkultur. Die altertümlichen Assoziationen der Ziehharmonika mit dem „leichten Mädchen“, der Gitarre mit „der Zigeunerin“, des Flügels mit einem schwarzem Monster etc. waren aus der mündlichen Volkspoesie in die Schriftquellen gewandert und hatten über geschriebene Drehbuchtexte und graphische Werke Eingang ins audiovisuelle Format des frühen Tonfilms gefunde. Die typischen Mise-en-cadre-Verfahren, mit denen die Kameraeinstellungen gewählt wurden, zielten darauf ab, glaubwürdige Identifikationsangebote für weibliches und männliches Handeln zu bieten.

Mit gewissen Vorbehalten könnte man behaupten, dass die drei im frühen Tonfilm meist gezeigten Musikinstrumente oft in einem Zusammenhang mit zwischengeschlechtlichen Interaktionen auftauchten (Drubek-Majer 2009).

Die russische Ziehharmonika, die im frühen Tonfilm wohl am häufigsten als ausdrucksstarkes Attribut der Filmprotagonisten erscheint, zählt zur Klasse von altertümlichen aerophonen Musikinstrumenten, deren Töne durch gegenläufige Bewegung des Blasebalgs erzielt werden. Die Herkunft des Instruments wird zumeist mit dem Export des deutschen Akkordeons in den osteuropäischen Raum (in der ersten Hälfte des 19. Jh.) assoziiert (Banin 1997: 248). Für die Deutung der Rolle, welche die Ziehharmonika im frühen sowjetischen Tonfilm spielt, ist allerdings die Herkunftsfrage weniger wichtig als die Tatsache, dass das Instrument in vielen lokalen Zentren hergestellt wurde und eine große Beliebtheit unter der ländlichen Bevölkerung genoss. Anders als das Klavier fand die Ziehharmonika bereits früh Eingang ins russische Gewerbe. Unter verschiedenen Namen (‚livenka’, ‚russkaja venka’ ‚chromka’, ‚tal’janka’, ‚tul’skaja oder ‚vjackaja garmon’) avancierte das Instrument schon im 19. Jh. zum Sinnbild der populären Musikkultur auf dem Lande.

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Die Ziehharmonika wanderte als Motiv aus der Malerei (hier: Fedot Syčkovs Bild U okolicy, 1927) in den frühen Tonfilm der 1930er Jahre.

Die Ziehharmonika versinnbildlichte insbesondere bei den bäuerlichen Schichten eine lustvolle moralfreie Sexbeziehung. Eine in der Volkspoesie (častuški) verbreitete Gleichsetzung der Harmonika mit einer liebestollen Frau, Prostituierten bzw. unersättlichen Vagina lässt sich von der Assoziation der Blasebälge mit den großen Schamlippen ableiten.44

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So wie in der Volkspoesie (Sergej Esenin, Petr Orešin) und der Volksmalerei (Boris Kustodiev, Fedot Syčkov, Vladimir Makovskij) wird in Alexander Medvedkins Film Novaja Moskva / Das Neue Moskau (1938) eine Parallele zwischen dem Akkordeonisten und einem dörflichen Schürzenjäger gezogen.

Der am Blasebalg ziehende Akkordeonist wird in der Malerei und später im Film im Umkreis von stehenden, sitzenden oder herum tanzenden Frauen dargestellt. Bei den Dichtern Sergej Esenin und Petr Orešin, die nostalgisch auf das patriarchale russische Dorf zurückblickten,45 rief das Instrument Assoziationen mit der entfesselten sexuellen und kriminellen Energie der Bauernmasse hervor.46

Im Gegensatz zu akademischen Musikinstrumenten, wie Geige oder Cello, kommt die Ziehharmonika im frühen Tonfilm der Stalin-Epoche in längeren Musikszenen mit Hauptprotagonisten zum Einsatz. Dabei lässt sich eine gewisse Dynamik in der filmischen Semantik des Instruments feststellen. Die Harmonika entwickelt sich nach und nach vom 'Flittchen' zur Muse der sowjetischen Massenfeste. Mithin tritt sie zunehmend selbst als Akteurin im diegetischen Raum des Films auf. In frühen Tonfilmen erscheint das Instrument hauptsächlich in den Händen von positiven männlichen Protagonisten, wie z.B. Kolchosdirektor Timofej (Petr Savin in Garmon‘ / Akkordeon, 1934), Mechaniker Saša (Ivan Kuznecov) in Semero smelych / Die Sieben Tapferen (1936), Ingenieur Aleksej (Daniil Sagal) in Novaja Moskva / Das Neue Moskau (1938)), als Freund des fleißigen Traktoristen Zgara (Ivan Matveev) in Bogataja nevesta / Die reiche Braut (1938)), Panzerfahrer Klim (Nikolaj Krjučkov) in Traktoristy / Traktoristen (1939) – die zumeist als Alleinunterhalter während der freizeitlichen Aktivitäten (auf dem Feld oder auf einer Zugreise, etc.) dargestellt werden. Eine Ausnahme bildet wohl die Figur des Pferdezüchters Kuz’ma (Nikolaj Krjučkov) in Pyr’evs Svinarka i pastuch / Die Schweinebäuerin und der Hirte (1941), wo der faule russische Bauer die Braut eines kaukasischen Hirten mithilfe der Ziehharmonika zu entführen versucht, Intrigen schmiedet und am Ende vertrieben wird. Der Film sollte die Gleichstellung aller Ethnien der UdSSR demonstrieren.

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In Igor’ Savčenkos Film Garmon’ / Die Ziehharmonika 1934) kommt eine in der Dorfpoesie verbreitete Gleichsetzung der Harmonika mit einer liebestollen Frau zum Tragen.

Bei der musikalischen Alleinunterhaltung wird der Akzent verstärkt auf die Belustigung von Frauen durch einen männlichen Spieler gelegt. Dementsprechend wird der Akkordeonist (zumeist singend) in der Mitte des Kaders umgeben von einer Gruppe von zuhörenden Frauen gezeigt. Im Film von Igor’ Savčenko Garmon‘ / Akkordeon (1934) wird die assoziative Verschränkung von Harmonika-Spielen und Annäherungsversuch in explizite visuelle Metaphern übersetzt, so beispielsweise in den Kadern, in denen unverheiratete Frauen zum Neid der Burschen im Dorf dem Akkordeonisten (später Leiter der Kolchose) Timofej zugetan sind.47 Transparente sexuelle Konnotationen enthalten Filmszenen, in denen die Kamera zwischen den Mündern der Kolchosbäuerinnen und dem beweglichen Körper des spielenden Akkordeonisten wechselt.48 Die weißen Reste der Kernschalen, die an den halb geöffneten Lippen der Frauen hängen geblieben sind, wecken eindeutige Assoziationen mit oralerotischen Aktivitäten.

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In Pyr’evs Komödie Svinarka i pastuch / Die Schweinebäuerin und der Hirte (1941) erobert der Pferdezüchter Kuz’ma mit seiner Harmonika die Herzen vieler Frauen, nur nicht das Herz der schönen Glaša, welche in den kaukasischen Hirten Musaib verliebt ist.

In den späteren Tonfilmen der 1930er Jahre, die in der Sowjetunion gedreht wurden, ist die Ziehharmonika ins System sowjetischer Werte einbezogen worden. Von nun an trug sie zur Konstruktion komplexer semantischer Antithesen, wie (1) Stadt vs. Land (2) Proletariat vs. Bauerntum, (3) Bolschewiki vs. Arbeitermasse bei. Im Rahmen dieser Antithesen wurde das Instrument in der Regel den rechten (semantisch weniger politisierten) Reihen der Opposition, wie Land, Bauerntum, Frau, zugeordnet. Im Film Junost‘ Maksima / Maksims Jugend (1934) von Kozincev/Trauberg taucht das Instrument als Attribut der nicht organisierten Arbeiterschaft auf: Ein Lehrling spielt Ziehharmonika, während die anderen aus einer Kneipe rausgeworfen werden oder hilflos den Tod eines verunglückten Kameraden beweinen. Mindestens dreimal wiederholt sich im Film die Szene, in der die Harmonika das Pfeifen von Gendarmen mit einem kläglichen Zwitschern erwidert und beinahe aus der Hand des spielenden Akkordeonisten fällt. In Vozvraščenie Maksima / Maksims Rückkehr lässt sich am öden Fiepen der Harmonika eine manipulierbare Soldatenmasse erkennen: anstatt sich dem bolschewistischen Protest gegen den imperialistischen Krieg anzuschließen, machen sich die Soldaten (die Bauern von gestern) gehorsam auf den Weg an die Front. Im Waggon werden sie von Blasebälgen eines Akkordeonisten quasi eingeschläfert. Die semantische Reihe ‚Harmonika – Frau – Land’ versinnbildlichte Lenins Projekt, in dem das Proletariat als Führer der Bauern konzipiert war.

Nach der Revolution (1917) und im Laufe der stalinschen Industrialisierung fungierte die Harmonika über eine lange Zeit als Brücke, die zur authentischen Kultur der Bauerngemeinschaft führte. Der adelige Jurist Nikolaj Karabčevskij (1921) berichtete, dass das Instrument immer nachts aus dem Hinterhof, wo Knechte und Mägde tanzten, zu hören war”.49 Der andere adelige Publizist Razumnik Ivanоv-Razumnik, der unter Stalin mehrmals verhaftet wurde, beschreibt in seinen Memoiren einen ihm damals bekannten Häftling, der vor seiner Einkerkerung als Akkordeonist bei Stalin und Vorošilov tätig gewesen war. Mehr als sechzig Mal wurde dieser nachts mit dem Auto abgeholt um bei Stalins Gelagen aufzutreten. Die musikalische Bildung der damaligen Kreml-Eliten befand sich, so der Berichterstatter, „auf einem [primitiven] Stand, bei dem das Spiel eines Akkordeonisten über alle Maßen genossen wurde“.50

Anders als die Ziehharmonika, indiziertе die Gitarre das Aufbrechen der lebensweltlichen Normen bei den Mittelschichten, wie Kaufleuten und kleinen Angestellten. Die siebensaitige ‚russische’ Gitarre, die gegen das Ende des 18. Jahrhunderts in Moskau in Mode kam und bis zur Revolution 1917 am häufigsten in Wohnzimmern und Restaurants gespielt wurde, stellte eine Modifikation des sechssaitigen spanischen Instruments dar. Angeblich hat der Moskauer Komponist polnisch-litauischer Abstammung Andrej Sichra (1773-1850) durch seine pädagogische Tätigkeit und vor allem durch sein Journal pour la guitare à sept cordes (1802) für den Erfolg der siebensaitigen Gitarrenmodifikation in Russland gesorgt (Vgl. Stachovič 2004: 8).

Als Gruppenunterhalter haben im 19. Jahrhundert insbesondere russische Roma, die im Zarenreich weniger als Sinti im Westen verfolgt wurden, diese Art von Gitarre allen anderen Instrumenten vorgezogen. Anders als ihr spanisches Pendant, war die „russische“ Gitarre (auch als ‘Zigeunergitarre’ bekannt) stärker an der Terzstimmung orientiert, was die Ausführung von Singakkorden in Zupftechnik und mithin das Singen von Romanzen wesentlich erleichterte. Die verbreitete Deutung des Instruments als ‘Zigeuneraccessoire’ enthielt die Idee einer anarchistisch verstandenen ‘Freiheit’, die in differenzierteren Vorstellungen von Heimatlosigkeit, Unersättlichkeit, Ausschweifung, Exzess, Völlerei oder Orgie zum Vorschein kam.51

Die frühsowjetische Literatur und Kunst, die akustische Identifikationsmuster für weibliches und männliches Handeln aufstellten, und sich um die Neuformation von Gender- Rollen bemühten, machten Gebrauch von der älteren Assoziation der Gitarre mit der Romni oder der Kurtisane. Der Gitarren-Unterricht war dementsprechend zwischen 1930 und 1950 an den sowjetischen Musikschulen untersagt.

Schon im ersten sowjetischen Tonfilm Putevka v žizn’/Der Weg ins Leben (Sowjetunion, 1931) von Nikolaj Ekk erschien die Gitarre als ethisch umstrittenes Instrument in den Händen des Diebes und Mörders Žigan, der die sowjetischen Jugendlichen vom Weg der Umerziehung im gut organisierten Arbeitslager abzubringen versucht. Die Assoziation der Gitarre mit einem stutzerhaften Auftritt und unehrlich verdientem Geld wird in der Tradition des sowjetischen Tonfilms in den 1930er Jahren gesteigert und vertieft. In Ivan Pyr’evs Filmkomödie Bogataja nevesta/Reiche Braut (Sowjetunion, 1937) erscheint die Gitarre in den Händen des intrigierenden Buchhalters Kovinko (Ivan Ljubeznov), der spielend versucht, dem fleißigen Traktoristen Zgara (Boris Bezgin) die Braut abzuwerben. Zgara gewinnt den Wettbewerb, sobald er das Lied des Rivalen mit seinem eigenen in Begleitung der Ziehharmonika gesungenen Lied erwidert. In einem anderen Film von Ivan Pyr’ev mit dem Titel Partijnyj bilet/Parteibuch (Sowjetunion, 1936) taucht die Gitarre als Instrument der Verführung in den Händen des Staatsverräters Zjubin (Andrej Abrikosov), der das Herz der integren Kommunistin Anna (Ada Vojcik) durch das schlichte Saitenzupfen erobert, auf.

In Michail Verners Filmkomödie Devuška spešit na svidanie / Ein Mädchen eilt zum Rendezvous (Sowjetunion, 1936) hilft die Gitarre einem betagten Schlitzohr (Michail Rostovcev), der vor seiner Ehefrau ans Meer flüchtet und unterwegs seine Papiere verliert, im Erholungspark mit einem vierzig Jahre jüngeren Mädchen anzubandeln.

Sieht man die Gitarre in den Händen des Vertreters der Arbeiterklasse, so geht es um politische Aktivitäten zum Zweck der Täuschung des Klassenfeinds. Bolschewik Maxim (Boris Čirkov), der Hauptprotagonist des Films Vyborgskaja storona / Die Vyborgseite (Sowjetunion, 1938) in der Trilogie von Kozincev/Trauberg spielt Gitarre, um unerkannt zu bleiben und die Agenten der Zarenregierung auf die falsche Spur zu locken.

In Petrovs Groza / Das Gewitter (Sowjetunion, 1934) lässt sich die Kaufmannstochter Varvara (Irina Zarubina) auf einen Flirt mit dem frechen kaufmännischen Gehilfen Kudrjaš (Michail Žarov) ein. Das Zupfen von Gitarrensaiten wirkt verführerisch auf die tugendhafte Katerina (Alla Tarasova), die sich bisher widerstandslos ihrem Mann untergeordnet hat. Die letztere begreift auf einmal, dass sie ihrer eigenen geheim gehaltenen Liebe zu Boris nicht mehr Widerstand leisten kann.

Als Symbol anarchistischer Lebenseinstellung tritt die Gitarre bei der Darstellung der freiheitssüchtigen Matrosen, kaum jedoch bei der Darstellung der disziplinierten Arbeiterklasse auf. Pfeifend und Gitarre spielend verfolgen die Matrosen aus der Hafenstadt Kronstadt eine noble Dame, die der Straßenhorde vergeblich auszuweichen versucht. Die gesetzestreuen Soldaten des bolschewistischen Wachregiments nehmen die Zivilistin in Schutz, wobei es zur handgreiflichen Auseinandersetzung zwischen Matrosen und Arbeitern kommt (Efim Dzigan, My iz Kronštadta / Wir sind aus Kronstadt (Sowjetunion, 1936).

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Die Gitarre wird in Vladimir Petrovs Film Groza / Das Gewitter (1933) von Zuhältern gespielt.

Ähnlich wie die Ziehharmonika wurde die Gitarre im Laufe der Zeit mit sowjetischen Konnotationen versehen und in den sowjetischen Alltag integriert. Eine neue Reflexion über den Beitrag des Instruments zur Bildung kollektiver Identität wurde nach wie vor im Medium des Tonfilms ausgetragen. Der erste signifikante Wendepunkt wurde allem Anschein nach in der Zeit des Zweiten Weltkriegs erreicht. Wie kein anderes Medium bemühte sich der Kriegsfilm um eine direkte Ansprache der Soldaten, die an den Fronten kämpften und starben. Dementsprechend wurde den Regisseuren der Kriegsfilme das Privileg gegönnt, die akustische Kultur von den Fesseln der offiziellen Propaganda zu befreien. Als Sensation wurde die Szene des Soldatengesangs mit bescheidener Gitarrenbegleitung in Lukovs Film Dva bojca/Zwei Soldaten (1943) gefeiert. Tief im Walde im dunklen Unterstand mitten in der Nacht wendet sich der lebensfrohe Soldat Arkaša Dzjubin (Mark Bernes) mit einer halblauten weichen Baritonstimme an seine Ehefrau, von der er glaubt, dass sie er weit von der Front an der Wiege sitzt und auf ihren Mann wartet. Tut sie das, so ist er sicher, dass ihm im Krieg nichts passieren kann. Das Lied Temnaja noč’ /Dunkle Nacht (Musik: Nikita Bogoslovskij; Text: Vladimir Agatov), das sofort einen unglaublichen Erfolg an der Front und im Hinterland hatte, implizierte einen Code-Switch in der kollektiven Deutung der Gitarre. Von nun an assoziierte man das Instrument zunehmend mit dem privaten Raum, der schwer erkämpft war und daher propagandafrei bleiben durfte. Der jüdische Schauspieler Mark Bernes wurde für seine Rolle im Film mit dem Orden „Roter Stern“ und dem Titel „Ehrenbürger von Odessa“ ausgezeichnet. Mit der Entstehung der halboffiziellen Medienöffentlichkeit nach dem Krieg avancierte die Gitarre zum Sprachrohr der intellektuellen Dissidenten-Bewegung.

Vor dem Hintergrund des Umbaus der gesamten auditiven Kultur im Kontext des Tonfilms wurde den traditionellen Klangquellen, wie Gitarre und Ziehharmonika, neue Konnotationen zuteil. Musikinstrumente aus dem bäuerlichen und kaufmännischen Alltag wurden sowjetisiert. Ihre Bedeutung wurde von den ursprünglichen obszönen, pragmatischen, standesbezogenen und mythopoetischen Konnotationen gelöst. So ähnlich erlebte der Flügel, als Attribut der adeligen Kultur, anfänglich eine Ablehnung im Kontext der sowjetischen Kultur. Zu Beginn der Stalin-Zeit wurde jedoch die Neubewertung des Flügels als Symbol der sowjetischen Industrialisierung begründet. Die ursprünglichen – im russischen Wort für den Flügel (rojal’) anklingenden – adeligen Konnotationen des verworfenen Musikinstruments wurden im sowjetischen Mainstream-Film transformiert. Umgekehrt legten sich die neuen Eliten des jungen Arbeiter- und Bauernstaates zunehmend Attribute der höfischen Kultur zu. Nach und nach verwandelte sich das Klavier aus einem sowjetischen Instrument in das Instrument des Sowjetischen, indem es die Kontinuität zwischen den sowjetischen Eliten und den adeligen Eliten des Zarenreichs herstellte.

Dmitri Zakharine
University College Freiburg
dmitri.zakharine@ucf.uni-freiburg.de

Notes

1 In etwa 50 Prozent der englischsprachigen Publikationen zu psychologischen Lärmwirkungen seit 1970 taucht nach einer Beobachtung von Guski der Begriff annoyance (Belästigung) auf. Darunter liegen andere weniger gebrauchshäufige Definitionen, wie acceptability (Erträglichkeit), speech intelligibility (Sprachverständigkeit), noisiness (Lärmigkeit), sleep disturbance (Schlafstörung) etc. (vgl. Guski 1987: 45).

2 Die Deutungen internationaler Immissionsschutzgesetze laufen seit der Zeit ihrer Verabschiedung Mitte der 1970er-Jahre darauf hinaus, Belästigung des Gehörs als eine Beeinträchtigung des Wohlbefindens zu werten (vgl. Schick 1979: 175 ff).

3 Vgl. Osgood 1952: 197-237; Treisman 1964: 12-16; Oehmichen 2001: 133-141.

4 Vgl. „These sounds were judged to be safe and pleasant by German subjects and dangerous and unpleasant by Japanese subjects […]. These sounds are a kind of bell and German subjects associate church bells from these sounds, while Japanese subjects associate a train-crossing or fire. This result suggests that this kind of sound is not suitable for danger signals used internationally.“ (Kuwano, Namba 1997: 125).

5 Vgl. auch an einer anderen Stelle: „Aller musikalischer Organismus ist seiner Natur nach aber – ein weiblicher, er ist ein nur gebärender, nicht aber zeugender“ (Wagner 1852: 116, 118).

6 Michael Walter (2015: 69) bemerkt in diesem Sinn, dass Verdi nach und nach den Zugang zum Dirigentenpult verlor, was dem Komponisten selbst immer weniger sinnvoll erschien: “Verdi rehearsed the vocal parts of his first opera Oberto (1839) as maestro concertatore. However, he had no influence on the first performance, since the performances were led by the first violinist or direttore d’orchestra […] to Verdi’s dismay it quickly turned out that the conductors of this new type, as Mariani and Toscanini, understood their conducting not only as realizing the will of the composer, but as a creative act in its own right which need not necessarily reflect the intentions of the composer“.

7 Vgl. Mertens (2010: 23) zum modernen Orchestermanagement.

8 Mertens hebt die besonderen arbeitsrechtlichen Bedingungen einer Tätigkeit im deutschen Orchester hervor: „Anders als Sänger*innen oder Schauspieler*innen wurden Musiker von Hofkapellen meist langfristig angestellt und erlangten in 19. und 20. Jahrhundert vereinzelt sogar einen Beamtenstatus“ (Mertens 2020: 108).

9 Nach dem Konzept von Berlioz sollte das Orchester 4 Flöten, 2 Oboen, 2 Englischhörner, 4 Klarinetten, 8 Fagotte, 4 Cornets à pistons, 12 Hörner, 4 Tuben, 16 Pauken (von zehn Spielern zu bedienen), Große Trommel, Rührtrommel, 4 Tam-Tams, 10 Becken, 25 erste Violinen, 20 Bratschen, 20 Violoncelli, 18 Kontrabässe umfassen; hinzu kamen vier Fernorchester mit zusammen weiteren 38 Blechbläsern: Cornets à pistons, 12 Trompeten, 16 Posaunen, 2 Tuben und 4 Tuben (Niecks 1884: 129).

10 Für Jazz beträgt die empfohlene Hördauer nur vier Stunden pro Woche. Die Differenz erklärt sich hauptsächlich aus dem unterschiedlichen Schallpegel der beteiligten Musikinstrumente. Bei gleicher Entfernung ist die typische Lautstärke von Jazzinstrumenten wie Saxophon, Trompete, Posaune, Schlagzeug und Trommel (95 dB) mehr als doppelt so hoch wie bei Cello, Kontrabass, Violine und Flöten (80-85 dB) (Holstein 2008: 86-87).

11 Vgl. den Brief an Madame du Deffand: „Un piano-forte qui est un instrument de chaudronnier en comparaison du clavecin“ (Voltaire 1774: 183).

12 Peter Willis (2009: 36) bemerkt dazu: “For the Broadwoods, Beethoven was a notable supporter. The Broadwoods sent an instrument by ship from London to Trieste and then had it carried by horse and wagon 360 miles over the Alps to Vienna for Beethoven's approval”.

13 Chopin verweist auf Broadwood‘s „English courtesy“ in seinem Brief an die Warschauer Verwandtschaft (am 10.08.1848): „One morning he came to see me -- I was worn out and told him I had slept badly. In the evening when I came back from the Duchess of Somerset's what do I find but a new spring mattress and pillows on my bed! After a lot of questioning, my good Daniel (the name of my present servant) told me that Mr Broadwood had sent them, and had asked him to say nothing“ (Hedley 1962:335; Willis 2009: 103).

14 Die Preislisten sind in der Publikation von Harding (1931: 399) enthalten, wobei der relative Wert hier aufgrund des zeitgenössischen Preisvergleichs ermittelt wird.

15 „Since every company featured its own proprietary arrangement for manual efficiency […] Throughout its early years cinema’s one constant companion was the piano – not because films and pianos have anything particular in common, but because pianos were ubiquitous during cinema’s first decades“ restoring synchronization, and since every film presented a special case, sync-sound systems in the aught offered opportunities neither for economy nor for (Altman 2004: 166, 322).

16 Vgl. „[...] loudspeakers were at first actually placed in the orchestra pit.“ (Altman 2004: 162).

17 Vgl. Die sowjetische Diskussion über die Musikalisierung des Tonfilms wurde in Frankreich von René Clair (Clair 1929), im deutschen Raum von Béla Balázs fortgesetzt (Balázs 1926-1931).

18 „В то время звуковые картины представляли собой не что иное, как заснятые на экран оперетки и оперы, а в дальнейшем развитии – ревю шантанного типа […]. Мысль заграничных предпринимателей капиталистов идет по чрезвычайно упрощенной схеме. […] 90% продукции направлено по пути создания картин шантанного типа. Любопытно, что бар, пивная и мюзик-холл избираются не только местом действия, но и основным материалом для построения тонфильмы“ (Andrievskij 1931: 16).

19 „Wurden die ersten Arbeiten im Bereich des Tonfilms im Ausland vor allem am Material der Musik realisiert, so erlebten wir in der UdSSR ein anderes Bestreben. In den ersten Tonfilmen benutzte man [bei uns] als Hauptmaterial verschiedenes Geräusch und Gepolter,“ bemerkt Andrievskij (Andrievskij 1931:16).

20 Vgl. „By 1900, over 250 American piano manufacturers were turning out some 171000 units a year“ (Altman 2004: 322).

21 Vgl. „Их [русских фортепианных фабрик- D. Z.] суммарное производство не превышало 8 тысяч инструментов в год, поэтому почти такое же количество ввозилось из-за границы.“ (Žirnov 2003: 2).

22 Vgl. „До 75% мастеров и рабочих были немцами, чехами, латышами и эстонцами [...] лишь самым подготовленным русским пролетариям дозволялось принимать участие в полировке продукции.“ ( Žirnov 2003: 2).

23 Vgl. Čechovs bahnbrechende Antithese von ‚lästig‘ und ‚kulturell‘, die auf die Rezeption der westlichen Hammerklavierkultur in Russland anspielt: „[…] казалось, что она не перестанет, пока не вобьет клавишей внутрь рояля […] Старцев […] рисовал себе, как с высокой горы сыплются камни, […], и ему хотелось, чтобы они поскорее перестали сыпаться […] После […] больных и мужиков […] смотреть на это […] чистое существо и слушать эти шумные, надоедливые, но всё же культурные звуки, — было так приятно, так ново.“ (Čechov 1962: 105)

24 Vgl. zum Begriff des “Unterhaltungshörers” Adorno 1968: 12ff.

25 Zu Preisen für Theaterkarten im vorrevolutionären Russland vgl. Rodin 2006: 2.

26 Zu BBC siehe: Doctor 1999: 39. Zu Programmen im sowjetischen Radio, siehe: Radioslušatel’ 1930 (N 32): 4.

27 Bei den arithmetischen Operationen stehen die Lautfrequenz und das Notenintervall im Verhältnis einer ganzen Zahl zueinander, sie könnten also multipliziert und dividiert werden. Im Fall des logarithmischen Verhältnisses werden die Lautfrequenz und das Notenintervall durch die Operation des Potenzierens und die des Wurzelziehens miteinander verbunden. Bei der zweiten Operation ergeben sich in der Ausgabe keine ganzen Zahlen. Das trainierte Ohr und das absolute Gehör nehmen diese Abweichungen als Dissonanz war.

28 Vgl. russ. orig.: „Переживаемый нами кризис музыкального творчества грозит затянуться на десятилетия, если не будет ‚свергнут‘ старый музыкальный строй – равномерная темперация“ (Avraamov 2001 [1932], 45-46).

29 Vgl. Mende 2009: 260.

30 Vgl. „Es ist unumstritten, dass die Musik der reinen Stimmung einer geringeren Verzerrung in der Kette der Verstärker ausgesetzt sein wird als die temperierte Musik“, schrieb der Komponist zur Verteidigung seines Konzepts (Avraamov 1939: 46).

31 Der Komponist Sergej Prokof’ev war de jure kein Emigrant. Er war legal in die USA ausgereist, kam jedoch zwischen 1929 und 1932 nur drei Mal für Konzerte nach Sowjetrussland. Für Prokof’evs Beschluss, in die UdSSR zurückzukehren (1933), gibt es viele Erklärungen. Angeblich spielten die Schulden des Komponisten dabei eine wichtige Rolle. Vgl. die ausführliche Biografie von Višneveckij (2009: 116).

32 Vgl. http://allpianists.ru/

33 Besonders gern mochte Ežov das Lied Ty ne vejsja černyj voron (Vasʹkin 2019).

34 Vgl. Mlečin 2017: “Молотов играл в ресторане на скрипке, ему платили рубль в сутки и кормили бесплатно. Купцы вызывали музыкантов в отдельные кабинеты, заказывали романсы. В благодарность угощали музыкантов кофе с ликером. Музыкальные увлечения Молотова стали предметом насмешек со стороны товарищей по политбюро. «Я не могу оценить, насколько хорошо он играл нa скрипке, но я слышал, как он играл, – вспоминал Хрущев. – Сталин иной раз подтрунивал над ним в этой связи, иногда просто издевался. Когда Молотов был до революции в ссылке, то пьяные купцы в ресторане зазывали его. Он играл им на скрипке, а они ему платили. Молотов говорил: “Это был заработок”. Сталин же, когда раздражался, бросал Молотову: “Ты играл перед пьяными купцами, тебе морду горчицей мазали”. Тут я, признаюсь, был больше на стороне Сталина, потому что считал, что это унижало человека, особенно политического ссыльного. Играет на скрипке и ублажает пьяных купцов! Можно ведь было поискать материального самообеспечения и другим путем […]”.

35 Tuchačevskij spielte Geige als Amateur, vielmehr war er jedoch als Restaurator der alten Geigen und Sammler bekannt. Über das Lackieren der Geigen hat der Marschall eine eigene Studie veröffentlicht: Tu­chačev­skij. Michail: 1929. Skri­pič­nye la­ki. Mos­kva.

36 Siehe die Dokumente im Sammelband Kremlevskij kinoteatr 2005 (Das Kreml-Filmtheater).

37 Vgl. die überlieferten Interviews mit den folgenden Fliegern und Fliegerinnen der 1930er Jahre: Michail Gromov, Michail Vodop’janov, Vladimir Kokkinaki, Gennadij Vlasov, Boris Nevernov, Marina Raskova, Polina Osipenko, Valentina Grizodubova.

38 Vgl. die überlieferten Interviews mit den folgenden Sportlern der 1930er Jahre: Georgij and Serafim Znamenskie, Nikolaj Starostin; Schauspieler: Vasilij Smyslov.

39 Vgl. die überlieferten Interviews mit den folgenden Helden der Arbeit der 1930er Jahre: Marija Demčenko, Aleksej Stachanov, Ivan Gudov, Evdokija and Marija Vinogradovy, Zinaida Troickaja, Paša Angelina, Serafima Kotova.

40 Vgl. die überlieferten Interviews mit den folgenden sowjetischen Naturwissenschaftlern und Erfindern der 1930er Jahre: Aleksandr Karpinskij, Nikolaj Burdenko, Aleksej Bach, Petr Kapica, Ivan Mičurin, Ivan Gubkin, Sergej Sobolev; Ernst Krenkel’, Ivan Papanin, Vasilij Degtjarev, Olga Lepešinskaja.

41Vgl. die überlieferten Interviews mit den folgenden sowjetischen Historikern der 1930er Jahre: Sergej Oldenburg; Emel’jan Jaroslavskij; Evgenij Tarle.

42 Vgl. die überlieferten Interviews mit den folgenden sowjetischen Schriftstellern der 1930er Jahre Maksim Gor’kij, Aleksandr Serafimovič, Aleksej Tolstoj, Vsevolod Ivanov, Vekentij Veresaev, Vsevolod Vinevskij, Aleksey Novikov-Priboj, Vanda Vasilevskaja, Olga Forš, Valentin Kataev.

43 Vgl. die überlieferten Interviews mit den folgenden sowjetischen Schauspielern der 1930er Jahre Vera Pašennaja, Marija Blumental’-Tamarina; Alla Tarasova, Nikolaj Chmelev; Ksenija Dzeržinskaja, Ivan Moskvin; Ekaterina Korčagina-Aleksandrovskaja, Valerija Barsova, Vasilij Kačalov, Michail Kedrov, Vera Mareckaja.

44 Vgl. Volkovs Belege aus der Folklore: „Spiel, spiel, Tal’janočka [Ziehharmonika – D.Z.] // solange wir Dich noch nicht durchgevögelt [wörtlich ‘zerrissen’ – D.Z.] haben [orig. „Ты играй, играй, тальяночка // Пока не раздерем!“] (Volkov 1999: 150 [N 1809]). Vgl.: „Tal’janočka // Plaudertäschchen! // Gut, dass 7-veršok lang // Dein Spielzeug ist!” [orig. „Тальяночка, // Говорушечка! // Хорошо, что семь вершков // Твоя игрушечка!“ Volkov 1999: 202, N2538)]. In seinem Vorwort zu Volkovs Lexikon der obszönen Volksverse betont der Forscher Plucer-Sarno, dass die weibliche Ziehharmonika das Gegenstück zum männlichen “Spielzeug” des membrum virile ist (Volkov 1999: 1). “Spielzeug” als Bezeichnung männlicher Genitalien kommt in der russischen erotischen Poesie des 18. Jahrhunderts häufig vor. Das männliche Glied mit einem Maß von sieben veršok (ca. 31 Zentimeter) wird z.B. im pornographischen Gedicht von Ivan Barkov (1732-1768) Kolybel’naja / Wiegelied (ca. 1762) erwähnt: „Спи мой хуй толстоголовый // Баюшки-баю // Я тебе, семивершковый // Песенку спою.“ (Барков 1762: https://rustih.ru/ivan-barkov-kolybelnaya/).

45 Der Bauer Emel’jan Bobkov schreibt in seinen Memoiren (1937), das Dorf ohne Akkordeonisten sei „wie eine Witwe ohne Mann“, jedes Mädchen halte es für eine Ehre, wenn sie „mal zusammen mit einem Akkordeonisten auf der Dorfstraße spazieren gehen kann“, [“Без гармониста деревня – это как вдова без мужа. Тоска, да и только. Любая девушка считала за честь пройтись с гармонистом по сельской улице.“]. Nach der Bemerkung eines anderen Zeitgenossen Gavrutikov kannte jeder auf dem Lande vor allem zwei Menschen – den Popen und den Akkordeonisten [“В деревне очень хорошо знали двух человек – попа и гармониста.”] (Vgl. https://proza.ru/2010/01/11/1034).

46 Im Zyklus Das Moskau der Kneipen // Moskva kabackaja (1922)), den der Dichter Sergej Esenin (1895-1925) kurz vor seinem Tode verfasste, wird der Blasebalgzieher sogar als Syphilitiker mit einer eingefallenen Nase geschildert. Der Akkordeonist singe für die aufgestandene Bauernmasse (die weiblich ist) über die Wolga und den sowjetischen Geheimdienst: „Ах, сегодня так весело россам. // Самогонного спирта – река. // Гармонист с провалившимся носом // Им про Волгу поет и Чека.“ (Esenin 2010 [1922]: 321). In einem seiner frühen Verse (1922) bezeichnete der andere Apologet des Dorfes, Petr Orešin, die klappernde Harmonika als „bolschewistisches Luder“. Als Luder vertreibe das Instrument die Frömmigkeit des Volkes: „Не затеплится в поле лампадка // Перед Спасом кадильный огонь // Ой, гремит по Заволжью тальянка // Большевицкая сука-гармонь!“ (Orešin 1922, https://literator.info/mikula-wppost-32740/ )

47 Stalins Vorurteile gegenüber dem freien Ausleben von Sexualität waren offensichtlich der Grund, warum Garmon’ beim Leiter des Sowjetstaates sofort in Ungnade gefallen ist. Während eines Gesprächs mit Boris Šumjackij, der Filmvorschauen für einen ausgewählten Kreis der Politbüromitglieder im Kreml organisierte, fragte Stalin einmal besorgt: “So einen Dreck, wie Garmon’ dreht ihr hoffentlich nicht mehr?” [A дряни, подобно “Гармонь”, больше не ставите?] (Šumjackij 2002 [1934], 281-346).

48 Vgl. Zur Oralerotik in der russischen Literatur und insbesondere bei Nikolaj Gogol’: Drubek-Meyer 1992.

49 Vgl. die Erinnerungen (1921) des Juristen Karabčevskij (1851-1925): „Nachts hörte man aus dem Hinterhof die Klänge der Ziehharmonika (der Lakai meiner Großmutter Van’ka spielte dieses Instrument meisterhaft) und ab und zu das Trommeln von tanzenden Füßen“ [orig. „По вечерам на заднем дворе слышна была гармоника — бабушкин лакей Ванька был большой мастер на этом инструменте — и доносился порою топот танцующих ног.“] (Karabčevskij 1921: http://books.e-heritage.ru/book/10093934). Die adelige Schriftstellerin Zinaida Gippius, die sich in ihrem Tagebuch (1920) über das neue Aussehen von Sankt-Petersburg nach der ‚Februar‘-Revolution (1917) beschwerte, erwähnt die „dickwangigen Gesichter von Soldaten“, „Sonnenblumenkerne, schallendes Gelächter und die Ziehharmonika”/„[…] толстомордые солдаты на па­нели и подоконниках, семечки, гогот и гармоника.“ (Гиппиус, 21.08.1929: http://az.lib.ru/g/gippius_z_n/text_0070.shtml).

50 Vgl. Ivanov-Razumnik 1953: 273: „По его рассказам — несколько лет подряд, в Москве, вызывали его на вечеринки, то к Сталину, то еще чаще к Ворошилову: эстетические вкусы в Кремле стоят как раз на таком уровне, чтобы услаждаться игрою виртуоза на баяне. За последние перед арестом два-три года Гармонист, по его словам, приглашался к кремлевским владыкам не менее раз шестидесяти. ‘Бывало по вечерам, а то и в середине ночи — за мной автомобиль: везут на домашнюю ве­черинку к Климу (Ворошилову), либо к самому Ста­лину. Поиграешь им, а потом с ними же да с гостями за одним столом и ужинаешь.“

51 Der angesehene Chirurg Nikolaj Pirogov berichtete über die pubertäre Veränderung seiner Psyche unter dem Einfluss einer Gitarre. Dies sei der Zeitpunkt gewesen, als er sich für Abbildungen von weiblichen Genitalien zu interessieren begann. Der Schreiber seines Vaters habe zur verwerflichen Sexualaufklärung des Jungen insofern beigetragen, als er diesem „schlüpfrige Bilder auf einer Tabakdose zeigte“, darüber hinaus „auch Gitarre spielte“ und Romanzen vorsang. [„Нравственность моя много потерпела во время этих бед. […] меня начали интересовать портреты женщин, описываемые в повестях и романах, картинки с изображением женских прелестей; а тут подвернулся еще молодой писарь отца, как видно — обожатель женского пола, для оболь­щения которого он пускал в ход гитару с припевом: ‚взвейся, выше понесися, сизокрылый голубок‘. Имя этой твари — Огар­ков — сохранилось в моей памяти до сегодня […]“ (Pirogov 1881: 137).] In den Memoiren des Großfürsten Aleksandr Michailovič Romanov (1932) kommt die Gitarre im Kontext der Erinnerung an eine japanische Zuhälterin in Nagasaki vor. Die Geisha sang für Seeleute „russische Lieder mit Gitarre“ und brachte die russischen Männer mit „ihren zukünftigen japanischen Ehefrauen“ für eine Nacht zusammen. (Romanov 1932: Teil 4: https://librebook.me/kniga_vospominanii/vol1/8).

Bio

Priv. Doz. Dr. habil. Dmitri Zakharine is senior researcher and lecturer at the chair Science and Technology Studies, University College Freiburg. He is author of four books and editor of five anthologies dedicated to linguistic, sociological, and historical issues. He has been author and leader of various sociological and historical research projects, such as: “The Sociology of purification rituals”, “Proximity and identity in a multicultural society, “The history of greeting“, as well as “Electrified voices. Acoustic Communities in the Soviet Union, Germany and Great Britain”. These projects, funded by the Fritz-Thyssen Foundation, Volkswagen Foundation, European Research Council and the German Research Foundation, were carried out at the Universities of Moscow, Konstanz, Bielefeld, Zürich as well as the Charles University Prague.

Zur besseren Lesbarkeit haben wir für diesen Artikel die russischen Teile des umfangreichen Referenz-Apparats sowohl im lateinischen als auch kyrillischen Alphabet angeführt.

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Suggested Citation

Zakharine, Dmitri. 2021. “Industrialisierung und auditive Kultur Osteuropas im Zeitalter des Hammerklaviers”. Apparatus. Film, Media and Digital Cultures in Central and Eastern Europe 12. DOI: http://dx.doi.org/10.17892/app.2021.00012.219.

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