Der Kinoapparat: die Quadratur des Kreises
Film, Medien und digitale Kulturen in Mittel- und Osteuropa
Mehrsprachigkeit als Form von realer Internationalität
Die modernen Medien sind Kinder des 19. Jahrhunderts, die als Instrumente und Maschinen dazu dienen, Zeit und Raum zu überwinden. Als Medien der Reproduktion und Bewahrung heben sie die Grenzen des individuellen Gedächtnisses auf und transportieren uns durch die Geschichte. So ist beispielsweise die digital reproduzierte Fotografie eines Filmapparats, von Michail Kaufman auf eine Lok montiert, und aufgenommen vermutlich von seinem Bruder, David / Denis Kaufmann (aka Dziga Vertov), am Ende der 1920er Jahre bereits ein vielschichtiges Medium. Dieses Bild ist Mittel der Dokumentation eines modernen Ensembles aus Mensch, Apparat, Lok und Schienennetz. Es ist zugleich Mittel der Kommunikation – zwischen damals und heute. Nicht zuletzt wird es, wahrgenommen als ästhetisches Objekt, zu einem Mittel der Kunst, Medien zu erforschen.
Im Untertitel der Zeitschrift haben wir den Film besonders hervorgehoben, weil er die vielstimmige Geschichte der technischen Medien im letzten Jahrhundert so sichtbar orchestriert. Die Geschichte des Films gibt früh darüber Auskunft, wie die modernen Medien die Welt neu montieren. Oder ist es doch eher der Mensch selbst, der das tut? Schließlich stand an einem der Ursprünge der Filmmontage etwas durchaus Menschliches, ein Kuss im schützenden Dunkel eines Eisenbahntunnels (1899):
Wir sehen Medien weniger aus der Perspektive eines technizistischen Apriori denn als Verbindungen von technisch-äußerem und psychisch-inneren Apparat. Medien geben eine feine Membran ab, mit der unsere Sinne eine Welt registrieren während wir unsere Sensorien zugleich in diese Welt ausstrecken.
Vertovs Metapher des „Kamera-Auges“ (kino-glaz) ist deshalb ein solch wirkungsvoller Terminus, da er auf selbstreferentielle Art und Weise die Essenz der optischen Apparate bezeichnet: Die Kameralinse ist ein Auge, aber sie ist auch Teil eines mechanisch-mathematischen Ensembles – nicht umsonst werden ihre Bilder als Rechteck projiziert.
Ähnlich ehrgeizig geht auch die Photo-Montage mit Dziga Vertov und Elizaveta Svilova um, die zum androgynen Wesen werden, die überkommenen Kreise der Genderrollen quadrierend. Aus dem sich drehenden „Kreisel“ (ukr. дзиґа) wird ein Dziga Svilov und aus seiner gespiegelten, also gedrehten Partnerin eine Elizaveta Vertova – Variationen auf das schwierige Thema gemeinsamer Autorschaft, wenn es um die gemeinsame Bedienung des Kino-Apparatus geht.
Die modernen Medien sind Agenten der Träume und der Albträume – sie eröffnen hybride Räume, in denen Wünsche geweckt und wieder zerstört werden, in denen Ideologien und Dokumentationen, Wahrnehmungen und Vorstellungen miteinander verschmelzen. Psychoanalyse und Film sind gewissermaßen Zwillinge, die in den 1890ern Jahren in Gestalt der Studien zur Hysterie der Anna O. und des kinematographischen Apparats zur Welt kamen. Beide haben ihre mittel- und osteuropäische Genealogien und eigene (Vor)Geschichten : Die Familie des im mährischen Příbor geborenen Sigmund Freud stammte aus Galizien und eine der ersten mit Projektionsmöglichkeit ausgestatteten Kinokameras wurde von Iosip Timčenko und Michail Frejdenberg auf dem Territorium der heutigen Ukraine konstruiert. Letzteres geschah 1893, zwei Jahre vor der Vorführung des Kinematographen durch die Lumière-Brüder in Paris.
Doch wesentlicher als über den geographischen Ursprung der Kinematographie zu verhandeln ist es die Folgen zu bestimmen, welche diese sich schnell ausbreitende Apparatur mit sich brachte. In der UdSSR stand sie beispielsweise im Zentrum des revolutionären politischen Programms industrieller Modernisierung und Hervorbringung eines „Neuen Menschen“ – seines Bildes, seiner Psyche und ganz wörtlich genommen. Die Apparatus-Theorie entsteht Ende der 1960er im Kontext der marxistischen Technikkritik in den psychoanalytischen Auseinandersetzungen mit dem Kino. Sie versteht den Apparat als ein Gefüge aus technischen Geräten und Anordnungen, dessen wichtigste Leistung, so Pleynets und Baudrys Ansätze, darin besteht, als Instrument von bürgerlichen Ideologien Subjekte zu konstituieren.
Echos dieser Technikkritik finden sich noch in der 2009 erneut gestellten Frage, was ein Apparatus sei – sie stammt von Agamben, der sich der Bestialität der anthropologischen Apparate des 20. Jahrhunderts – vor allem der Rassentheorie in der Ausprägung des industriell betriebenen Holocaust gewidmet hatte. Er rekurriert auf Foucault, der mit dem Apparatus und seinem begrifflichen Doppelgänger, dem dispositif, machtanalytische Überlegungen verband. Den französischen Denkern entgegnete 1983 Vilém Flussers Technophilosophie des Apparats, die diesen von der industriellen Maschine unterscheidet, und den Menschen als Bediener des postindustriellen Apparats sieht: „Der Funktionär beherrscht den Apparat dank der Kontrolle seiner Außenseite (des Input und Outpout) und wird vom ihm beherrscht dank der Undurchsichtigkeit seines Innern.“2
Es ist kein Zufall, dass die Bediener moderner politischer Apparate einen eigenen Begriff hervorgebracht haben. Der Neologismus Apparatschik bezeichnete im Sowjetrussischen einen Funktionär des politischen Verwaltungsapparates, einen Verwandten des modernen Bürokraten. Die Apparate der Brüder Kaufman jedoch haben mit diesem Apparatus wenig zu tun – es sei denn im Flusserschen Sinne, als Operateure moderner und außerhalb des Klassensystems wirkender Apparate, die nicht mehr der Ausbeutung von Arbeitern dienen sollen. In dem anonymen Foto transzendiert der sowjetische Kinoapparat die Eisenbahn, das Emblem der Maschinenwelt des industriellen Zeitalters.
Apparatus setzt sich mit Film, Medien und digitalen Kulturen auseinander, die aus jenem „Osten des Westens“ stammen, der bereits eine Blickrichtung in sich trägt. Der Untertitel der Zeitschrift erinnert daran, dass der Westen und der Osten keine realen geographischen Orte auf Landkarten sind, sondern Spuren ideologischer Apparate, die wir noch nicht ersetzt haben mit neuen Forme(l)n des Sprechens und Denkens. Es fehlen bisher die Worte für dieses Andere des „früheren Westens“ – es sei denn wir sprechen von einem „neuen Europa“.
In Europa basierte die Ost-West-Trennlinie im Mittelalter auf der religiösen Teilung der christlich regierten Länder in West- und Ostkirche. Später folgten von den national-romantischen Befreiungsbewegungen geforderte neue Staaten und Grenzziehungen, die sich an Ethnien und Nationalsprachen orientierten. Da diese ständig in Bewegung sind, waren es auch die daran hängenden virtuellen Grenzen, die bis auf den heutigen Tag Kriege als Möglichkeit der Durchsetzung der eigenen Idee von Religion, Ethnie oder Nation offen lassen. Im 19. Jahrhundert wurde gerade im östlichen Europa die schöne Literatur zum erfolgreichsten Medium dieser nationalen Bewegungen, die sich národní obrození (tschechisch) oder narodni preporod (kroatisch) nannten. Im 20. Jahrhundert wurde geopolitische Expansion in den Kategorien „Volk“ und „Raum“ ideologisiert, wobei „Volkszugehörigkeit“ anhand von Sprache konstruiert und geprüft wurde. Die v.a. in Mitteleuropa noch bis ins 20. Jahrhundert übliche Mehrsprachigkeit – etwa einer slavischen Sprache, des Deutschen oder auch des Jiddischen erschien aus dieser Perspektive als Makel.
Eine politisch-ideologische Teilung Europas war das Ergebnis des 1. und 2. Weltkriegs, die jenen „Ostblock“ hervorbrachte, der in der Erinnerung etwa der mitteleuropäischen Subjekte, welche die Generation nach dem 2. Weltkrieg repräsentieren, zu einer langen Dauer geworden war, die ihre Biografien noch heute bestimmt. Die Öffnung der Grenzen vor und nach 1989 durch Revolutionen an den östlichen Schnittstellen des Westens vermittelt Perspektiven, welche die Generation der im Blockdenken des kalten Krieges Aufgewachsenen bis heute in sich tragen: Dies sind nun schon wahre Anordnungen, ganz so, wie sie uns in den heutigen Projektions- und auch medialen Propagandaräumen Europas entgegentreten. Optisch-politische Illusionen, die jedoch – da sie Identifikationsmuster darstellen – hinter realen Auseinandersetzungen stehen können. Europas „Westen“ existiert nur in Relation zu einem „Osten“, sagen wir es klarer: „seinem Osten“. Nicht zuletzt sei erwähnt, dass ein Osten ohne Westen sein Zentrum eher in den asiatischen Ländern verortet.
Wenn wir diese Relativität von Osten und Westen als Essenz Europas begreifen, nähern wir uns nicht nur einer Entschlackung solcher Begriffe wie „Osteuropa“ an, sondern auch dem des „Westens“ selbst, den es inzwischen auch nicht mehr gibt, da aus Former West ein von apparativen Membranen überzogener Globus geworden ist. Das Internet ist zu einem neuen Feld des Kontakts und der Auseinandersetzung geworden. Es ist zwar global, aber nicht universal – schließlich wird hier in vielen verschiedenen Sprachen geschrieben, die so erstmalig in dieser apparativen Koexistenz lesbar sind.
In den Netzkulturen des digitalen Zeitalters, in denen die Akzelerationsgeschwindigkeit der Anglophonie jene des Kinos im vorigen Jahrhundert möglicherweise sogar übersteigt, soll Mehrsprachigkeit dazu beitragen, dass möglichst vielen historischen und geographischen Erfahrungen eine Stimme verliehen wird.
Die Zeitschrift Apparatus widmet sich gegenwärtigen und historischen Medien in ihrer vollen Bandbreite (vormoderne und frühe technoforme Medien, Film, Radio, Fernsehen, DVDs, Tonband, Internet) und wendet ihre Theorie auf traditionelle Kommunikationsformen (Buch, Handschrift) an. Apparatus erzeugt neue mediale Netze zwischen den Sprachen und Kulturen. Apparatus fördert sowohl theoretische als auch praktische und experimentelle Untersuchungen.
Durch seinen internationalen Beirat ist Apparatus in der globalen Wissenschaftslandschaft verankert. Da wir an das Potential der Vielstimmigkeit der europäischen Kulturen glauben, tragen wir Sorge, dass die Publikationen in verschiedenen Sprachen erscheinen, jeweils mit einer ausführlichen englischen Zusammenfassung, die weitere Leserkreise ansprechen und zu einer Annäherung an Anderssprachigkeit ermuntern wird. Schließlich gesteht nur die Offenheit für Mehrsprachigkeit den Objekten unserer Forschung eine Subjektposition zu, die es erlaubt, sich auf Augenhöhe zu begegnen. Apparatus ist sowohl Produkt als auch Werkzeug dieser Gemeinschaft der Vielfalt. Unser Ziel ist es, die Webseite so weit wie möglich in drei Formularsprachen anzubieten: Deutsch, Englisch und Russisch. Diese drei Sprachen (in zwei Alphabeten) sind wichtige Voraussetzung für die Zugänglichkeit und die elektronische Einreichung. Gewählt wurden sie aufgrund ihrer Verbreitung und auch ihrer historischen Bedeutung in Ost- und Mitteleuropa.
Die Qualität der Artikel wird durch ein beidseitig anonymes Peer-Review-Verfahren gesichert, das Texte ohne Ansehen der Herkunft, des Status und des Namens begutachtet.
Die Form der digitalen Publikation ermöglicht nicht nur den lebendigen Umgang mit Bildern, Film- und Audio-Clips, sondern fördert auch eine unmittelbare Verlinkung mit Forschungs- und Primärdaten, die in Zukunft auch einen Platz finden können in Apparatus. Die in der Zeitschrift veröffentlichten Forschungsergebnisse verhalten sich zuweilen wie ein kritischer Apparat zu den medialen Texten, die untersucht auch durch Apparatus archiviert werden.
Wir sehen in der digitalen Erscheinungsweise den wissenschaftlichen Nährboden für die untersuchten Medien, wodurch ein Austausch unterschiedlicher Disziplinen, wie Text- und Bildwissenschaften, Kunst- und Technologiegeschichte oder auch Ästhetik und Medienphilosophie und nicht zuletzt Sozialgeschichte und Archivierungspolitik angestoßen wird.
Wir möchten als neues Forum einen Beitrag zur Open-Access-Bewegung leisten, der wir eine wachsende ethische Relevanz zusprechen. Die Verhaftung, Anklage und der Selbstmord des US-amerikanischen Open Access Pioniers Aaron Swartz haben vor Augen geführt, was beim Zugang zu Wissen auf dem Spiel steht – und dies gilt für West ebenso wie für Ost. Sowohl Zensurmechanismen als auch Monopolisierung und Monetarisierung von Wissen schaden der Forschung. Wir hoffen, dass eine Zeitschrift, die sich mit der Kultur der Medien befasst, eine Sensibilisierung aller Wissenschaftler für das Thema Open Access mit sich bringt. Diese Intention übersteigt die institutionalisierten akademischen Disziplinen und verbindet sie im gemeinsamen Horizont einer Expanded Academia. Nicht zuletzt erscheint Apparatus im Open Access, um eine uneingeschränkte internationale Verbreitung und Zugänglichkeit insbesondere im östlichen Europa zu erreichen.
Apparatus nimmt im Bereich der wissenschaftlichen Publikationen die Spuren der Ost-West-Teilung ins Visier, prüft, inwieweit sie ökonomischer oder kultureller Natur sind und wird dadurch auch zu einem Medium politischer Diskurse. Apparatus ist als emanzipatorisches Publikationsprojekt also auch ein Instrument, das die historische und politische Bedingtheit jener West-Ost-Anordnungen reflektierend im Auge behalten will.
Apparatus treibt durch den weltweiten Zugang zu Wissen eine Demokratisierung in den Kultur- und Medienwissenschaften voran, die nur auf dem Wege der bi-direktionalen und horizontalen Kommunikation möglich ist. Apparatus ermutigt aus diesem Grund Autorinnen und Autoren aus Polen, Tschechien, Russland, aus dem Baltikum, der Ukraine, Rumänien, Ungarn, Slowenien und vielen anderen Ländern Mittel- Ost- und Südosteuropas dazu, die Zeitschrift als ein Plateau der Kommunikation und als eine Werkzeugkiste für europäische und globale Diskussionen zu gebrauchen.
Drubek, Natascha, Hennig, Anke und Sandomirskaja, Irina 2015. Editorial: “Apparatus: Zur Einführung.” Apparatus. Film, Media and Digital Cultures in Central and Eastern Europe 1. DOI: http://dx.doi.org/10.17892/app.2015.0001.11
URL: http://www.apparatusjournal.net/
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